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Seite:Meyers b19 s0442.jpg

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19

der zu veredelnden und die zollfreie Wiedereinfuhr der veredelten Waren gewährt wird. In dem frühern deutsch-schweizerischen Handelsvertrag war nur der letztere Verkehr, der sogen. passive Veredelungsverkehr, vertragsmäßig zollfrei. Thatsächlich wurde aber auch schon früher die Einfuhr der zu veredelnden Produkte, der sogen. aktive Veredelungsverkehr, zollfrei gestattet. Der neue Vertrag bestätigt also nur die Zollfreiheit auch dieses letztern Verkehrs in rechtlich bindender Form. Der hochentwickelten deutschen Appretur-, Färberei- und Druckereiindustrie kommt die Zollfreiheit des aktiven Veredelungsverkehrs sehr zu statten.

Die von Belgien im deutsch-belgischen Handelsvertrag gewährten Konzessionen bestehen vorzugsweise in Zollbindungen. Dies erklärt sich daraus, daß der belgische Zolltarif überwiegend auf freihändlerischer Grundlage ruht. Ermäßigt ist der belgische Zoll auf gewisse Vieharten, nämlich Schafböcke, Mutterschafe, Hämmel (von 2,50 Frank pro Stück auf 2 Fr.), ferner auf Bier, Wild, getrocknete Pflaumen, gemeines Kochgeschirr, Tressen, Furnituren aller Art für Fabrikation von Hüten etc. Bei den letztern beiden Positionen tritt an die Stelle des bisherigen fünfprozentigen, nach dem Wert berechneten Zolles Zollfreiheit. Im übrigen bestehen die belgischen Zugeständnisse ausschließlich in allerdings zahlreichen Zollbindungen. Deutschland hat sich gegenüber Belgien zu einer Reihe von zum Teil sehr erheblichen Zollermäßigungen, namentlich auf baumwollene Bettdecken, grobe Gewebe aus rohem Gespinst von Baumwollenabfällen, Eisenbahnachsen, Eisenbahnradeisen und Eisenbahnräder, Kochgeschirr, Gewehr-Hähne, -Federn, -Läufe, -Schlösser, Sohlleder, Handschuhleder, Nähzwirn, Packleinwand und viele andre Waren verstanden. Dagegen hat Deutschland nicht so viele Zollbindungen eingeräumt wie Belgien. Belgien bezog aus Deutschland jährlich durchschnittlich Waren im Werte von 137 Mill. Mk., Deutschland aus Belgien Waren im Werte von 337 Mill. Mk. Besonders garantiert wird im Handelsvertrag Zollfreiheit für den gegenseitigen Transitverkehr, an deren Gewährung Belgien vermöge seiner geographischen Lage ein hervorragendes Interesse hatte.

Endlich hat Deutschland mit Spanien eine neue Vereinbarung getroffen, nach welcher der deutsch-spanische Handelsvertrag im wesentlichen bis zum 30. Juni 1892 verlängert werden soll. Spanien kommen bis zum 30. Juni nach einem Beschluß des deutschen Bundesrats diejenigen Zollermäßigungen und Zollbefreiungen zu, welche den Vertragsländern zugestanden worden sind. Nur nimmt es an den Österreich und Italien gewährten Zollermäßigungen auf Wein in Fässern nicht teil. Dagegen genießt Deutschland in Spanien bis zu dem genannten Zeitpunkte das Recht der Meistbegünstigung und hat außerdem noch einige wenige besondere Vergünstigungen gegenüber dem neuen spanischen Zolltarif erhalten.

In Aussicht steht der Abschluß weiterer H. mit andern europäischen Staaten (namentlich Schweden-Norwegen, Portugal, vielleicht auch der Türkei und Griechenland). Der deutsche Bundesrat ist dem entsprechend ermächtigt, „vom 1. Febr. 1892 ab die für die Einfuhr nach Deutschland vertragsmäßig bestehenden Zollbefreiungen und Zollermäßigungen auch solchen Staaten, welche einen vertragsmäßigen Anspruch hierauf nicht haben, gegen Einräumung angemessener Vorteile bis längstens 1. Dez. 1892 ganz oder teilweise zu gewähren“. Es besteht somit auf deutscher Seite das Streben, die für die Einfuhr günstigern Vertragstarife so sehr als irgend möglich zu verallgemeinern und Differentialzölle möglichst zu vermeiden. Mit Rußland freilich dürfte eine Verständigung so lange ausgeschlossen sein, als Rußland infolge des schweren Notstandes, von dem es betroffen ist, kein Interesse an der Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte nach Deutschland hat. Zur Durchführung einer Kontrolle darüber, ob die nach Deutschland eingeführten Waren aus den Vertragsländern, bez. aus meistbegünstigten Ländern stammen, werden von den deutschen Zollbehörden zum Teil Ursprungszeugnisse gefordert, so für Weizen, Roggen, Hafer, Hülsenfrüchte, Gerste, Mais, Wein und Most in Fässern, gewisse Arten von Vieh und einige andre Produkte. Nur für Getreide bedarf es eines von dem betreffenden deutschen Konsul im Ausland ausgestellten Ursprungszeugnisses. Sonst genügen für den Beweis der Herkunft andre stichhaltige Belege. In Deutschland sind die folgenden Staaten meistbegünstigt: Argentinische Konföderation, Belgien, Chile, Costarica, Dänemark, Dominikanische Republik, Ecuador, Frankreich, Guatemala, Hawaische Inseln, Honduras, Italien, Korea, Liberia, Madagaskar, Marokko, Mexiko, Niederlande, Österreich-Ungarn, Paraguay, Persien, Salvador, Sansibar, Schweden und Norwegen, Schweiz, Serbien, Südafrikanische Republik, Türkei (auch Ägypten, Bulgarien und Ostrumelien) und Vereinigte Staaten von Nordamerika.

Die fünf Vertragsstaaten umfassen eine wohlhabende und kaufkräftige Bevölkerung von ungefähr 135 Mill. Einw., also ein ansehnliches Wirtschaftsgebiet, welches voraussichtlich durch den Anschluß weiterer europäischer Staaten des Nordens und Südens noch erheblich vergrößert und damit zugleich in den Stand gesetzt werden wird, die wirtschaftlichen Interessen Europas gegenüber wirtschaftlich mächtigen Ländern andrer Erdteile mit Erfolg zu verfechten. Ein hoher Vorteil der neuen H. ergibt sich daraus, daß dieselben auf die Dauer von 12 Jahren geschlossen sind. Während es den Vertragsstaaten unbenommen bleibt, ihre Zölle nach Bedarf zu ermäßigen, ist auf den Zeitraum von 12 Jahren eine bestimmte Grenze nach oben festgesetzt und damit eine Stabilität in den gegenseitigen Zollverhältnissen geschaffen, deren man sich bei dem System der bloßen Meistbegünstigungs- oder kurzzeitiger Tarifverträge nicht erfreute. Damit ist für Handel und Produktion die Möglichkeit einer ruhigen und sichern Entwickelung geschaffen, welche auch für die Arbeiter von hoher Bedeutung ist. Allerdings werden durch die zahlreichen, deutscherseits gewährten Zollermäßigungen einzelne Wirtschaftszweige zunächst geschädigt werden. Insbesondere gab die Herabsetzung der Getreide-, Vieh-, Weinzölle etc. Veranlassung zur Klage. Immerhin sind die Agrarzölle nicht unter die Sätze heruntergegangen, welche vor fünf Jahren allgemein noch für außerordentlich hoch erachtet wurden. Bezüglich der Ermäßigung des Zolles auf Trauben und italienische Verschnittweine ist noch zu bemerken, daß bisher der Weinkonsum in Deutschland im Verhältnis zu andern Ländern sehr gering war. In Frankreich war der Konsum an Wein bereits 20mal so groß, in der Schweiz mehr als 9mal so groß, in Österreich ungefähr 31/2mal so groß auf den Kopf der Bevölkerung als in Deutschland. Diese Thatsache erklärt sich ohne Zweifel aus der Höhe der Weinpreise in Deutschland. Diese haben zur Folge, daß nur vorwiegend die wohlhabenden Klassen Weine, und zwar bessere deutsche und französische Weine trinken, während die minder wohlhabenden und armen Volksklassen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19. Bibliographisches Institut, Leipzig 1892, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b19_s0442.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2025)