verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 18 | |
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Die wichtigste Frage, welche die Armenstatistik außer der fundamentalen und so schwierigen nach der Zahl der Armen zu beantworten hat, ist die ebenso schwierig zu stellende wie zu beantwortende nach den Ursachen, welche zur Verarmung geführt haben (Tabelle III). Das Schema, welches die deutsche Reichsstatistik diesbezüglich angenommen hat, ist zwar ziemlich kurz, liefert aber doch höchst charakteristische Ergebnisse. Sie lehrt, daß, wenn man die Ziffern für das ganze Reich beachtet, die Hauptursachen der Verarmung Verwaisung, Verwitwung und Krankheiten nebst Altersschwäche sind; auf alle andern Ursachen entfallen nicht einmal ganz ein Viertel aller Fälle. Wenn es gelingt, mittels der Unfall-, Kranken- und Altersversicherung diesem Hauptstamm der Verarmungsursachen, diesen drei Vierteln aller Fälle beizukommen, dann wird die Armut in dem heutigen Sinne bedeutend zurückgedämmt werden. Ferner wird die Form der Armenpflege eine wesentlich andre werden, indem an Stelle der heutigen Pflegeorgane die Einrichtung des Hilfskassenwesens tritt. Ob dabei die Armut im eigentlichen Sinn, d. h. das Angewiesensein auf das denkbar niedrigste Existenzminimum beim Mangel an selbst unumgänglich notwendigen Gütern, geringer wird, das allerdings hängt von den Leistungen des Hilfskassenwesens ab, und es müßten, um diesen Effekt zu erreichen, die auszuzahlenden Quoten höher sein, als sie es jetzt sind. Auf jeden Fall aber wird eine größere Ordnung in das Gebiet der Armenverwaltung hineingetragen und überdies auch in gewissen Grenzen eine Eindämmung der Verarmung herbeigeführt werden.
Verarmungsursachen | Deutsches Reich (ohne Bayern u. Els.-Lothr.) | 77 Städte (nach Böhmert) | |||||||||
Zahl der Unterstützten überhaupt | auf jede Ursache entfallen Prozente | Auf 1000 Einw. entfallen Ursachen | Zahl der Unterstützten überhaupt | auf jede Ursache entfallen Prozente und zwar bei den Selbstunterstützten | |||||||
Eigne Verletzung | 29330 | 2,1 | 0,7 | 1948 | 1,1 | ||||||
Verletzung des Ernährers | durch Unfall | 2623 | 0,2 | 0,1 | 109 | 0,0 | |||||
Tod des Ernährers | 11801 | 0,9 | 0,3 | 0,0 | |||||||
Tod des Ernährers | nicht durch Unfall | 239644 | 17,5 | 6,0 | 5337 | 5,6 | |||||
Krankheit der Unterstützten | 388363 | 28,4 | 9,7 | 75714 | 45,7 | ||||||
Körperl. od. geistige Gebrechen der Unterstützten | 167947 | 12,3 | 4,2 | 7338 | 5,9 | ||||||
Altersschwäche | 204078 | 14,9 | 5,1 | 16956 | 15,7 | ||||||
Große Kinderzahl | 96832 | 7,1 | 2,4 | 25173 | 5,0 | ||||||
Arbeitslosigkeit | 74077 | 5,4 | 1,9 | 30874 | 12,5 | ||||||
Trunk | 28638 | 2,1 | 0,7 | 2611 | 1,3 | ||||||
Arbeitsscheu | 16336 | 1,2 | 0,4 | 1978 | 1,4 | ||||||
Andre bestimmt angegebene Ursachen | 106309 | 7,8 | 2,7 | 11339 | 5,8 | ||||||
Nicht angegebene Ursachen | 1369 | 0,1 | 0,3 | 109 |
Gehen wir auch rücksichtlich der Verarmungsursachen auf den Unterschied von Stadt und Land ein, so sehen wir, daß dieser ebenso charakteristisch wie erheblich ist. In der Stadt ist die Erkrankungsziffer weit größer und die Krankheit weit mehr Verarmungsursache, ebenso wie die Altersschwäche früher eintritt und verderblicher wirkt; alles Folgen der größern Abnutzung und hygienisch ungünstigern Position der Arbeiter in den Städten, endlich aber auch ihrer isoliertern Stellung. Auch die Arbeitslosigkeit tritt weit häufiger auf und ist nicht selten Ursache momentan eintretender Verarmung, und zwar dies um so mehr, je mehr der Arbeitslohn nur ein Fortfristen des Lebens von Tag zu Tag ermöglicht, ohne das Zurücklegen eines Notpfennigs zu gestatten.
(ohne Bayern und Elsaß-Lothringen).
Gattung der Armenverbände | Offene Pflege | Geschlossene Pflege | ||
Personen in Tausenden | Anteil in Prozenten | Personen in Tausenden | Anteil in Prozenten | |
Städtische Gemeinden | 626 | 78,9 | 167 | 21,1 |
Ländliche Gemeinden | 332 | 80,5 | 81 | 19,5 |
Gutsbezirke | 50 | 92,1 | 4 | 7,9 |
Gemischte Bezirke | 55 | 79,6 | 14 | 20,4 |
Ortsarmenverbände zus.: | 1063 | 80,0 | 266 | 20,0 |
Landarmenverbände zus.: | 16 | 41,3 | 22 | 58,7 |
Totalsumme: | 1079 | 78,9 | 288 | 21,1 |
Was endlich den Unterschied von offener und geschlossener Pflege anbelangt, so läßt sich sagen, daß im Deutschen Reich etwa ein Fünftel aller verarmten Personen in Anstalten untergebracht werden, während vier Fünftel ihre Versorgung in offener Pflege finden. In dieser letzten Ziffer sind aber auch alle jene zahlreichen Fälle enthalten, in welchen die Beteilung nur einen vorübergehenden Charakter hat. Das Detail ist aus der nebenstehenden Tabelle IV zu entnehmen.
Litteratur. Sammelwerke: Emminghaus, Das A. und die Armengesetzgebung in den europäischen Staaten (Berl. 1870); die bezüglichen Abschnitte in Schönbergs „Handbuch der politischen Ökonomie“ und im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ (Jena). Einzelne Länder: „Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege u. Wohlthätigkeit“, 1886 ff.; E. Münsterberg, Die deutsche Armengesetzgebung und das Material zu ihrer Reform (in Schmollers „Forschungen“, Leipz. 1887); Rocholl, System des deutschen Armenpflegerechts (Berl. 1873); Böhmert, Das A. in 77 deutschen Städten (Dresd. 1886); Mischler, Die Armenpflege in den österreichischen Städten und ihre Reform (Wien 1890); Derselbe, Das Gablonzer System der Armenpflege (in „Deutsche Worte“ 1890); Reitzenstein, Die Armengesetzgebung Frankreichs (Leipz. 1881); Kries, Die englische Armenpflege (Berl. 1863); Aschrott, Das englische A. (in Schmollers „Forschungen“, Leipz. 1885); Niederer, Das A. der Schweiz (Zürich 1870); Tourbié, Dänisches Armenrecht (Berl. 1888). Statistik: Statistik des Deutschen Reichs, Erhebung für 1885, und zahlreiche Erhebungen in den Einzelstaaten. Italien: „Atti della Commissione Reale per l’inchiesta sulle opere pie I–VIII“ (Rom 1886–89); „Statistique de la France, etc.“ Geschichte: Ratzinger,
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 18. Bibliographisches Institut, Leipzig 1891, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b18_s0074.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2022)