Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Der Geist und die Zustände der frühern Zeiten spiegeln sich am deutlichsten in ihren Monumenten wider. Von den Denkmälern, welche unsere Voreltern hinterließen, geben keine den künftigen Geschlechtern einen vollgültigern Beweis von dem Reichthume der Städte und dem kühnen Geist ihrer freien Gemeinwesen in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden im Mittelalter, als ihre öffentlichen Gebäude aus diesem Zeitraum. Zwar zehrten die Kreuzzüge einen großen Theil von dem Reichthum der deutschen Nation auf; aber was sie an materieller Kraft dadurch verlor, das gewann sie vielfach an geistiger wieder, die sie zu den größten Bauunternehmungen ermuthigte, sowohl zur Verherrlichung Gottes, als der eigenen Würde und Macht. Unsere großartigsten Münster, Kirchen, Rath- und Kaufhäuser sind während der Kreuzzüge und in der nächstfolgenden Periode gebaut worden.
Der deutsche (oder, wie er gemeinlich genannt wird, gothische) Baustyl galt im 13ten, 14ten und 15ten Jahrhundert für größere öffentliche Gebäude ausschließlich. Zeugniß geben die Rathhäuser zu Nürnberg, Frankfurt, Braunschweig, Prag, Regensburg, Aachen, Löwen, Mecheln, Antwerpen, Gent, Brüssel u. v. a. Städte Niederlands und am Rhein. Pracht, Ernst und Würde sind in diesen Bauten mit Zierlichkeit vereinigt.
Unter den schönsten steht das Stadt- oder Rathhaus in Brüssel oben an. Es ist ein Muster seines Styls und, was selten der Fall ist, es wurde, sowohl im Innern als Aeußern, ganz vollendet. Auf Kosten der Brüsseler Gemeinde ist’s binnen 42 Jahren, von 1400 bis 1442, aufgerichtet worden. Das zierlichste Ebenmaß der Verhältnisse und die bis auf alle Details der Ornamente sich erstreckende, höchste technische Vollendung machen diesen Steincoloß zu einem wahren Kunstwerke. Wer es betrachtet, möchte wünschen, es stände, vor des Wetters rauher Hand geschützt, unter einem Glashause.
Das Brüsseler Rathhaus nimmt die Mitte des großen Marktplatzes ein. Es steht frei und ist nicht, wie es so häufig bei ähnlichen Gebäuden anderswo der Fall ist, durch kleinliche Anbauten, Buden etc. etc. verunstaltet. Es macht ein Viereck von etwa 350 Fuß Seitenlänge, das einen innern Hof gleicher Form umschließt. Das Material
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/95&oldid=- (Version vom 31.12.2024)