Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Windsor, die Stadt, (man könnte sie das englische Versailles nennen) liegt etwa 5 deutsche (22 englische) Meilen oberhalb London, an der Themse, in einer schönen Landschaft. Reiche Auen breiten sich vor ihr am Strome aus und rückwärts lehnt sie sich an bewaldete Hügel. Auf dem höchsten derselben erhebt sich das Schloß, von allen Seiten frei, hehr und herrlich, herrschend über die ganze Gegend, eines Königs von England würdig; ehrwürdig durch sein Alter und umringt von aller Majestät der Geschichte. Windsor-Castle ist der gefeierte Sitz der Herrscher Britanniens schon seit länger als dreizehn Jahrhunderten. Hier thronte König Arthur mit seinen Rittern von der Tafelrunde, Wilhelm der Eroberer hielt öfters Hof hier, und unter den Regierungen der Eduarde und Heinriche sah es die Tage des höchsten ritterlichen Glanzes. Es war der Lieblingsaufenthalt der Königin Elisabeth, von der noch jetzt eine der Gallerien des Schlosses den Namen führt, und aus seinem Kerker in Windsor bestieg König Karl I. das Schaffott. An Georg III. gingen hier während eines halben Jahrhunderts die Tage des Glücks und eine lange Nacht voller Wehe vorüber. Während seiner und seines Nachfolgers, Georg IV., Regierung wurden große Summen auf die Restauration der alten Königsburg und auf ihre Ausschmückung und Erweiterung verwendet. Durch dieselbe (sie kostete über 10 Millionen Gulden) ist ein Bau entstanden von so erstaunlicher Größe, Pracht und Ausdehnung, daß Windsor-Castle gegenwärtig unter den europäischen Fürstenschlössern ohne Rival dasteht.
Vier große Eingangsthore führen in den regelmäßigen, von imposanten Gebäudefronten umgebenen Schloßhof. Sie sind so angebracht, daß, wenn sie geöffnet sind und man steht in der Mitte des Hofes, jedes Thor ein liebliches Landschaftsbild einrahmt. Zum Südthore führen Propyläen, und das Erste, was im Innern des Vorhofs das Auge fesselt, ist die Sankt Georgskapelle, nicht an Größe, aber an innerer Pracht und an Reichthum der architektonischen Ausschmückung neben der Heinrichs-Kapelle der Westminsterabtei das Schönste und Vollkommenste, was die gothische Baukunst der spätern Jahrhunderte hervorgebracht hat. Sie wurde unter Heinrich VIII. erbaut und in den ersten Jahren des 16ten Jahrhunderts, zur Zeit des Raphael, vollendet. Zum sonntäglichen Gottesdienst ist der Besuch der Kapelle frei. Die Banner, Schwerter und Coronets der Hosenbandritter, stolz an den Emporen rund umher gereiht, das milde Licht der bemalten Fenster, das reiche,
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/115&oldid=- (Version vom 31.12.2024)