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Seite:Meyers Universum 8. Band 1841.djvu/99

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Eifersüchtig bewahrt man es vor jeder Neuerung, und obschon ohne schriftliche Denkmäler, hält man es werth, wie ein Heiligthum. – Eben so unverändert bewahrt das Volk Verfassung, Sitten und Gesetze, welche nicht auf schriftliche Urkunden, sondern allein auf Herkommen und Tradition sich gründen. Ihre Verfassung spiegelt auf eine den Geschichtsforscher frappirende Weise die ältesten Zustände der Germanen wieder. Sie haben Clan- (Stamm)-, und Gaugemeinschaften. Feudalistische Grundformen sind so kenntlich, wie bei den Deutschen zu Tacitus Zeit. Niemals herrschte im Caucasus ein Einziger. An der Spitze eines jeden Gaues steht ein Führer, als Fürst. Die Gemeinschaften schwören sich einander Beistand zur Wehr und Abwehr. Keine Ursache entschuldigt, keine mildert die Schande der Feigheit. Todesstrafe kennen die Tscherkessen nicht. Sklaverei sühnt das größte aller Verbrechen – Verrath gegen das Vaterland; Sklaverei dünkt dem freien Volke mehr als der Tod, und freiwillig opfert sich oft der Verbrecher, jener zu entgehen. Die Maßregeln im allgemeinen Interesse des Volks, Krieg und Frieden etc., werden auf Versammlungen entschieden, welche jeder Gau durch einen freigewählten Abgeordneten beschickt. Die Ausführung der Beschlüsse fällt den Clanfürsten zu, deren Würde in der Familie forterbt. Das Volk ehrt die Fürsten von Zeit zu Zeit durch freiwillige Geschenke. Bestimmte Abgaben darf keiner fordern. Eine Art Adel, ein Ritterstand, steht den Fürsten zunächst, und jener führt sein Ahnenregister so genau, als nur irgend ein deutscher Freiherr. Die Adlichen haben freie Hintersassen auf ihren Besitzungen und Sklaven – diese die Beute des Kriegs. Der Sklave ist Sache; er wird verkauft und vertauscht nach Willkühr. Uebrigens hat der Ritter kein Vorrecht vor dem gemeinen Freien und beider Stimmrecht bei den Versammlungen ist von einerlei Werth.

Frühzeitig adoptirten die Tscherkessen das Christenthum. Später fand Muhameds Lehre Eingang. Man nahm wenigstens deren Formen an, und behielt von den christlichen Vorstellungen die bei, welche die liebsten geworden waren. So verehren die Tscherkessen neben dem Propheten die Mutter Gottes und neben den Korans-Heiligen christliche Apostel. Die Sitten der Tscherkessen sind eben so rein, als rauh. Für das zarte häusliche Leben haben sie keinen Sinn. Das Weib ist ein untergeordnetes Wesen – der Tscherkesse vergiebt seiner Ehre nichts, wenn er seine Tochter einem Werber für das Noviziat des Harems verkauft. Raub ist kein Verbrechen – Blutrache Tugend: die Freiheit aber ist Allen das Heiligste, Höchste.

So steht dies Volk in der Gegenwart wie das letzte Blatt aus einem vor undenklicher Zeit geschriebenen Buch. Wir staunen die herrlichen großen Züge an – aber wir verstehen sie nicht. Im prächtigen Juchtenbande des russischen Völkercodex kann es am wenigsten passen; zerrissen also, vernichtet soll es werden! – In der That ist der Caucasus, als das Thor, durch welches der Slaven Herrschaft nach Südasien strebt, für Rußland viel zu wichtig, als daß es, vom Standpunkte seiner Politik folgerecht weiterschreitend, nicht Alles daran setzen sollte, sich dessen vollständigen Besitz zu sichern; und so wird es ausführen, was schon beschlossen war, als es durch den Adrianopeler Traktat von den Türken sich Etwas abtreten ließ, was diesen niemals gehört hat. –

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/99&oldid=- (Version vom 4.12.2024)