Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band | |
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Pfeifen, umtaumelt von halb- oder ganz-nackten Kindern, die mit ihren rothgefärbten Haaren, Augenbraunen und Nägeln, mit ihren, an kleinen Haarzöpfchen hängenden Amulettmünzen und bunten Halsbändern, aus der Ferne Affen ähnlicher sehen, als Menschen. Dann und wann kommen koraitische Juden und armenische Handelsleute die Straße daher geritten, letztere in prächtigen, glänzenden Costümen, auf wohlgefütterten Saumthieren, oder es begegnet eine Bande Zigeuner, mit ihrem buntscheckigen Gepäck von Kesseln, Proviant und Lumpen. Sie durchziehen ungehindert das Land und treiben als Musikanten, Gaukler und Gauner ihr Wesen. Um die Mannichfaltigkeit voll zu machen, überrascht mitten unter der tartarischen Bevölkerung ein deutsches Colonistendorf, von Schwaben bewohnt, die vor langen Jahren sich hier angesiedelt haben. Sie brachten ihren Schulzen, Pfarrer und Schulmeister aus der Heimath mit, haben sich ganz wie im Vaterlande eingerichtet, Tracht und Sprache unverändert beibehalten, und leben mit ihren mohammedanischen Nachbarn in friedlichem, freundlichem Verhältniß. Wunderlich nehmen sich die schwäbischen Mädchen mit ihren kurzen, faltenreichen Tuchröcken, ihren engen Hauben, den knappen Miedern, den rothen Strümpfen und Schuhen mit hohen Absätzen neben dem ernsten Mullah mit seinem schneeweißen Turban, dem Murza mit seinem gestickten Rocke, oder unter den tartarischen Bauernmädchen mit dem weiten Gewande und den zierlichen Sandalen aus.
Jedes Tartarendorf hat seine Moschee, ein kleines, reinliches, niedliches Säulengebäude, das an die Tempelform der Alten erinnert. Das Volk ist sehr religiös und hängt mit um so innigerer Liebe an dem Glauben seiner Väter, seitdem ihr politisches Band vom russischen Schwerte zerhauen ist. Aberglaube, von der Priesterkaste genährt, ist die schwerste Last dieser gutmüthigen Menschen: denn in allen Begegnissen und Zufälligkeiten des Lebens sehen sie Gnomen- und Geisterkräfte wirksam, und der Kampf dagegen durch Amulette und Gebet beschäftigt sie unablässig. Alle Tartaren lernen bei ihrem Mullah lesen, und die meisten auch schreiben; – der Koran ist in jeder Hütte; freilich ist er auch ihr einziges Buch. Sie sind einfach, freundlich, gastfrei, ehrlich; bebauen das Feld und weiden ihre Heerden, in welchen ihr Reichthum besteht, auf den Steppen und in den Bergen. Nur eine heftige Leidenschaft scheint dies Volk mit patriarchalischer Sitte zu beherrschen: unversöhnlicher Haß nämlich gegen seine Unterdrücker. Er erbt fort von Generation zu Generation, und wird genährt durch die traditionelle Hoffnung auf einen Messias, der im Volke zur rechten Stunde erstehen und wieder aufrichten werde das Reich Timurs, und erneuern soll den erloschenen Glanz der Nation. Der Tartarenhaß gegen die Russen, obschon uralt und in der Frühgeschichte beider Völker begründet, bekam durch die unmenschliche Behandlung Potemkins, unter Katharinens Regierung, die höchste Schärfe. Dieser allmächtige Günstling der Kaiserin hauste in der Krimm mit Grausamkeit, und fügte zum Joche der Knechtschaft die Lust an der Qual. Schauergeschichten, von denen in den Annalen jener Zeit kaum einige Züge aufgezeichnet und erhalten sind, füllen in den tartarischen
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/185&oldid=- (Version vom 9.12.2024)