Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band | |
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das trübe der Fackel und der Lampe. Fortan höhlte er freistehende Felsen zu Tempeln aus und formte sie von außen, wie ihm gefiel. Es geschah dieß meist in der Pyramidal-Form, zu welcher er durch die Gestalt der meisten Berge hingeführt wurde. Sodann reizte ihn seine Phantasie zum Versuch, auch zu verschönern, was er geschaffen hatte, zu schmücken, was ihm durch die Menge der Arbeit und Mühe lieb und werth geworden war. Die Darstellungen mußten nothwendig in Harmonie seyn mit dem Zwecke der Gebäude, sie mußten sinnbildlich seyn voller Bedeutung. Auf solche Weise kamen die allerältesten Völker dahin, auf den Wänden ihrer Felsentempel sich an die Darstellungen des Uebersinnlichen zu wagen. Der Wille war allmächtig in dem alten Menschen, doch der rohen Kraft konnte das Werk nur sehr unvollkommen gelingen. Er klimmte aufwärts; aber am Ziele sank er erschöpft zu Boden. Er kämpfte mit dem Genius, aber mit irdischen Waffen. Daher das Giganteske an den Ornamenten und Figuren jener Werke der indischen Baukunst, welche, vor etwa 4000–3000 Jahren vor Chr. errichtet, den zweiten Zeitraum der indischen Architektur ausmachen. Noch war damals die Regel nicht gefunden, hinter welche sich die Schwäche verstecken kann, wie in spätern Zeiten. Noch strebte der Mensch titanenmäßig den großen Werken des Schöpfers nach, freilich mit unendlich kleinern Kräften, aber doch ungedrückt vom eisernen Joch, welches später als Regel der Alltäglichkeit wie dem Genie ohne Unterschied sich um den Nacken legte.
Jene freie Nachahmung der Natur gibt den indischen Bauwerken der zweiten Periode den Charakter von gesetztem Ernst und erhabener Würde, welche den Beschauer in Erstaunen setzen. Wie die Natur verbirgt sie in Einfalt ihre Fülle, und in der üppigsten Freiheit herrscht das Gesetz der innern Harmonie.
Die urältesten Sitze der indischen Kultur waren nicht die Gegenden des Ganges, sondern Ceylon und die gegenüberliegenden Küsten Vorderindiens, Coromandel, oder das heutige Carnatik. Dort und in dem fernen Afghanistan sind die unzerstörbaren Felsentempel anzutreffen, welche nur von der andauerndsten Begeisterung vollbracht werden konnten. Fast alle diese Bauten sind nicht etwa aus weichem, bröcklichem Gestein gehöhlt, sondern aus hartem Granit, und wenn man den damaligen Mangel an Hülfsmitteln, um die Arbeiten zu beschleunigen, berücksichtigt, so muß man bei jedem der größern Tempel eine Bauzeit von Jahrhunderten voraussetzen.
Uebrigens geben diese Tempel ein zusammenhängendes Fortschreiten der Kunst, vom Rohen zum Einfachen, von diesem zum Verzierten, und endlich zum Zierlichen und Ueberladenen deutlich zu erkennen.
Zur zweiten Periode – derjenigen nämlich, während welcher man die als Tempel ausgehöhlten Felsen an ihren äußern Wanden in architektonische Formen brachte und Skulpturen auf ihnen aushauete, die sich auf den Cultus bezogen – gehören auch die merkwürdigen Monumente, welche die Gegend von Mahabalipur im Carnatik schmücken. Kein Ort der Erde kann eine solche Menge von monolithischen Monumenten in so großen
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/135&oldid=- (Version vom 6.12.2024)