Zum Inhalt springen

Seite:Meyers Universum 5. Band 1838.djvu/103

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
CCIX. Das Königsschloss in Madrid.




Wir waren in Madrid. Von den Strapatzen eines sechzehnstündigen Ritts erschöpft, suchte ich früher als gewöhnlich die Ruhe. Der Regen, der sich in Strömen ergoß, plätscherte an meine Fenster und wirkte wie Wiegenlied. Mein Schlaf war ein süßer, ein wahrer Todtenschlaf. Die Sonne stand sehr hoch am Himmel, als ich am andern Morgen erwachte. Mein nächstes Geschäft war der Besuch der Merkwürdigkeiten Madrids. Der erste galt dem königlichen Schlosse.

Es hat eine schöne, freie Lage. Auf einer Anhöhe am Westende der Stadt beherrscht es eine nach allen Seiten hin freie Aussicht auf die noble Hauptstadt, auf die Ebene, in derem Schooße diese liegt, und auf die fernen Gebirge.

Seine Ansicht imponirt weniger durch Schönheit, als durch die ungeheuere Größe und Regelmäßigkeit der Masse. Das Schloß ist ein Viereck von fast 500 Fuß Seitenlänge und 100 Fuß Höhe. Der Weg geht im Zickzack hinan. Unwillkührlich denkt man dabei an eine Citadelle. Oed und ärmlich ist die nächste Umgebung. Elende Hütten armer Proletarier liegen am Fuße des Hügels, wie unerhörte Bitten am Fuße des Throns.

Der große Eindruck, den die ungeheuere, in symmetrischen Verhältnissen sich darstellende Masse hervorbringt, geht verloren, sobald man den Pallast näher betrachtet. Grandiosität, edle Einfalt und Würde, Eigenschaften, welche dem Hause eines Fürsten geziemen, suche man hier nicht: – sie liegen begraben unter einer nicht aufzufassenden Masse von Zierrath, in nichtssagenden, von eigensinniger Laune diktirten Zusammenstellungen von Formen, von denen man sagen könnte: Ein Etwas von Allem, das Ganze ein Nichts. Die Farbe des Gesteins macht den Unsinn und die Ueberladenheit der Verzierungen nur um so deutlicher. Der Pallast ist aus blendend weißem Sandstein errichtet. Aus der Ferne gesehen, scheint er ganz aus Marmor.

Seine Erbauung fällt in die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Die nächste Veranlassung dazu war eine Feuersbrunst, welche den alten Pallast (im Jahre 1734) verzehrte. Den ersten Plan dazu entwarf Ginoara; nach diesem wurde das Gebäude das größte in der Welt geworden seyn; aber unausführbar gefunden, beauftragte Karl der Dritte einen Schüler jenes Architekten, Sachatti, den Bau nach einem veränderten Entwurfe zu leiten. Auch dieser kam nicht zur vollständigen Ausführung. Die große Treppe z. B., welche an Pracht Alles

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/103&oldid=- (Version vom 26.8.2024)