Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band | |
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abwehren wolltest! Wie anderwärts ist auch hier die Geduld die einzige erlaubte Waffe gegen eine privilegirte Spitzbubengesellschaft, und du kommst am besten davon, wenn du, das Unabwendbare ertragend, gelassen deines Weges ziehst.
Auf die impertinenten Affen folgen in der Reihe der Geduldübungen die Fakir’s, die hinter kleinen Krambuden mit Götzenbildern einen unerträglichen Lärm mit mißtönenden Instrumenten machen, die ganz eigentlich dazu gemacht zu seyn scheinen, die Vorübergehenden zu betäuben. Zwischen den Fakirbuden an beiden Seiten der Gassen sind die Kranken und Krüppel beider Geschlechter gereiht, alle vom ekelhaftesten Aussehen, die Haare wild, den Körper mit Kreide und Kuhmist beschmiert, und in den abscheulichsten, oft obscönsten Stellungen. Ihr pestartiger Gestank umnebelt die Sinne des Vorübergehenden, Schwärme von Bettlern aus allen Sekten umkreisen ihn bei jedem Tritte, und das unaufhörliche Geschrei: Aga Saib, Topi Saib! (Herr! gib Almosen, gib zu essen!) mit dem Jammern und Heulen der Kranken, möchten einen zur Verzweiflung bringen. Auffallend groß ist die Menge der Aussätzigen und jener unglücklichen Fanatiker, welche Jahre lang unbeweglich in einer gewissen Stellung beharren, bis alle Glieder in derselben versteifen. Hier siehst du Menschen mit ausgereckten Armen und geballten Fäusten, denen die Nägel durch die Hand gewachsen sind. Andere halten die Augen fest geschlossen, bis sie zusammen schwären, und noch andere stehen auf Klötzen mit eisernen Stacheln, die ihnen durch die Füße gewachsen sind, und bei der geringsten Bewegung die entsetzlichsten Schmerzen verursachen. Vergebens beginnst du Almosen auszutheilen. Es ist Oel in’s Feuer, ein Tropfen in’s Meer! –
So ist der erste Eindruck, so der Willkommen, der dem Fremden wird, wenn er die heilige Stadt Hindostan’s beschreitet, „diesen Lotos der Welt, die abgeschlossene Stadt der Erde, auf der Spitze des Dreizacks Siwa’s erbaut, den Ort, den Alle segnen und preisen, den Ort, wo es genügt, zu sterben, um selig zu werden, wenn man nur mildthätig gegen die armen Brahminen ist.“ Diese letztere Bedingung liefert den Schlüssel zum tollen Räthsel. Sie ist’s, welche die Zehntausende von geistlichen Bettlern aus allen Theilen Indiens hieher zieht, und jenes Versprechen ewiger Seligkeit erklärt es, daß so viele reiche Leute am Abende ihrer Tage hier zusammenströmen, die der Welt überdrüssig und von ihren Freuden gesättigt sind. Zu ihnen gesellen sich abgesetzte Fürsten, verabschiedete Minister indischer Könige, große Verbrecher, die das Gesetz nicht erreichen kann, Menschen, die Gewissensbisse herführen, um ihre Seele zu reinigen, oder welche die Langeweile, die sie quält, in der Theilnahme an den prunkenden Festen Brahma’s zu erdrosseln gedenken. Unglaublich groß ist die Summe, welche der Reichthum hier durch Almosengeben verschwendet. Sie betragen weit mehr als die gesammten Steuern Hindostan’s.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1837, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_4._Band_1837.djvu/109&oldid=- (Version vom 21.9.2024)