Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band | |
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Die Aristokratie der Geburt hat in den civilisirten Reichen des europäischen Kontinents überall ihr Greisenalter erreicht. Nachdem die Bevorrechteten Jahrhunderte lang in Streit und Eifersucht um den Vorrang in Würden und äußerm Glanz ihre Kräfte vergeudeten, nachdem sie die erste Periode der Erschütterungen durchlaufen haben, welche, Erdbeben weissagend, das Gebäude der Gesellschaft durchzucken, erkennen sie, daß, was da dem Königthum, dort dem Volke an Macht zuwuchs, die ihrige verlor. Ueberall betrachtet sich die Aristokratie als die betrogne Partei und der Reibungen müde, in denen sie unterzugehen fürchtet, äußert gegenwärtig kein Stand aufrichtiger und lebhafter das Verlangen nach besitzsichernden und schützenden Gesetzen, nach Erhaltung der Ruhe und des Friedens, als eben der ihrige. – Aber während die Hälfte des Adels diese Bürgschaften als ganz ausreichend betrachtet für die Bewahrung seines Besitzes und wohl gar thörichte Hoffnungen zur Wiedererlangung[WS 1] des unwiederbringlich Verlornen darauf gründet, hält der verständigere Theil jene Garantieen allein nicht für genügend. Klüger und aufgeklärter geworden durch Erfahrung und Unglück, hat er das Unhaltbare manches geretteten Anspruchs, manches gebliebenen Rechts einsehen gelernt, und, um sich vor den Täuschungen der Habsucht zu bewahren, ist er zum freiwilligen Aufgeben bereit. Während die Orthodoxen hartnäckig auf verjährte und lächerlich gewordene Ansprüche bestehen, bekennt freimüthig die klügere Partei, daß es ein Rechnungsfehler der Dummheit sey zu glauben, ihr Stand, wenn er, wie früher, es sich zur Aufgabe mache, auf Kosten der übrigen zu genießen, könne bestehen auf die Dauer. Sie sieht ein, daß Widerwille, Haß, Verachtung und Rache des täglich heller sehenden Volkes unausbleiblich solchem Streben der Bevorrechteten entkeimen müssen, und sie gesteht sich, in solchem Keime sey, als einstige Frucht, der Kaste sichere Vernichtung verborgen.
Dieses Schisma in den Meinungen, seit 1789 offenkundig und allgemeiner hervorgetreten, spaltet die Geburtsaristokratie im civilisirten Europa in 2 Hälften, deren Streben zwar im Grunde einerlei Ziel verfolgt, Erhaltung nämlich alles als haltbar erkannten Besitzes; aber doch in Bezug auf die Mittel dazu und auf die Frage, was haltbar sey, weit auseinander geht. Von allen Aristokratien hat die brittische am längsten dieser Spaltung widerstanden. Alt zwar sind die Parteien der Whigs und Torys; aber auf die Wahrung der Adelsrechte gegen Thron und Volk waren beide stets mit gleichem Eifer bedacht. Erst in unserer Zeit, seitdem durch die Verbesserung des Schulwesens und durch die Wirksamkeit zahlreicher Vereine, welche Volksbildung zum Zweck haben, die Mittel des Unterrichts der englischen Nation in reicherm Maaße gereicht werden; seitdem durch allgemeine Ideen- und Meinungsmittheilung
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Wiederelangung
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1836, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_3._Band_1836.djvu/51&oldid=- (Version vom 28.7.2024)