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Seite:Meyers Universum 3. Band 1836.djvu/169

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CXXVI. Die Kirche des heiligen Grabes zu Jerusalem.




Es gab eine Zeit, wo eine Pilgerfahrt nach Jerusalem zu dem Lebensschmucke eines rechtgläubigen Christen gehörte. Wie man Mahomed’s Gläubigen noch heute lehrt, daß eine Wallfahrt nach Mekka und Medina die Pforten des Paradieses öffne, so versicherten im Mittelalter die Priester den Christen: Gebet und Opfer an den heiligen Leidensörtern des Heilandes sey der Preis für die vollkommenste Vergebung der Sünden, für die sicherste Erlangung der himmlischen Seligkeit. Damals waren oft über eine halbe Million christlicher Pilger in einem Jahre auf der Wanderung nach Jerusalem begriffen, und zahlreiche Flotten dienten diesen Prozessionen aus dem Westen nach dem Orient zur Ueberfahrt.

Jene Zeit ist längst vergangen. Jenes Priesterthum, welches die Leichtgläubigkeit und Dummheit der Nationen mißbrauchte, um sie zu unterjochen, ist nicht mehr, und der Schatten, der seinen Namen trägt, ist machtlos. Der Groß-Handel mit der Gnade und Verzeihung des Allmächtigen und mit der Seligkeit des künftigen Lebens ist zur Kleinkrämerei herabgesunken oder er hörte auf; und die Gebete für die Seelen der Todten finden nicht mehr wie früher immer bereite Käufer unter den Lebendigen[1]. An die Stelle des Aberglaubens ist der Unglaube getreten, das mißhandelte Vertrauen löste sich in Zweifel auf und bittere Enttäuschung folgte dem im Heiligenscheine prangenden Betruge. Die Kapellen auf den Höhen verfallen, ihre Gnadenbilder sind verlassen, und die Züge der Gnadesuchenden nach den berühmtesten Wallfahrtsorten werden dünner von Jahr zu Jahr. Auch der sonst so breite und gewaltige Strom von Pilgern zum heiligen Grabe, in den sich alle Christenvölker der Welt ergossen, ist nur noch ein unscheinbarer, trüber Bach, und die ihm zufließenden Quellen der Abendländer vertrocknen.

Die Gesammtzahl der im verwichenen Jahre aus Europa in Jerusalem angekommenen Pilger war nicht ganz 2000; eine kleine Zahl, wenn man erwägt, daß im Mittelalter manchmal an einem Tage eine größere Menge blos in Jaffa an’s Land stieg. – Die meisten der heutigen Wallfahrer sind Russen, Griechen, Spanier und Italiener. Doch selbst aus protestantischen Ländern kommt noch alljährlich eine kleine Zahl, meistens Leute von guter Erziehung und aus den höhern Ständen, welche irgend ein Gelübde zum Grabe des Erlösers führt, oder Unglückliche, die auf Golgatha im brünstigen Gebete Versöhnung mit sich, oder Aussöhnung mit Gott und ihrem Schicksal suchen. Leider finden diese in der Regel niemals, was sie suchen, und die schmerzlichste, roheste Enttäuschung ist der einzige Gewinn ihrer langen Fahrt.


  1. Der spanische Klerus bezog vor der Revolution für Seelenmessen allein jährlich 30 Millionen Realen vom spanischen Volke.