Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band | |
|
Das heutige Pisa ist ein immer noch sehr stattlicher Ort. Schon von fern nimmt sich die blendend-weiße Stadt mit ihrem majestätischen Dome und dem sonderbaren, schiefen Thurme, im Schooße des breiten Arnothals, von Orangenhainen umgeben, herrlich aus. Alle Zugänge sind mit Oliven und schattenden Platanen eingefaßt, und Rebenguirlanden schlingen sich von einem Baume zum andern. Eine zauberische Atmosphäre, deren Durchsichtigkeit und Reinheit den Fernen die brilliantesten Farbentöne verleiht, und das auffallend Stille und Menschenleere machen die Landschaft zur eigentlichen Heimath der Poesie und Kunst. Man fühlt die Nähe der großen Schatten von Cimabue und Giotto, der Gatti’s, des Michel Angelo, von Galilei, Dante, Bokkaz und Petrarka.
Und was sich in der Ferne so schön ausnahm, verliert in der Nähe nichts von seinem Glanze und seinem dichterischen Reiz. Die Gärten verlassend, betreten wir eine Marmorbrücke, und die vom Arno getheilte Stadt breitet sich vor uns aus. Rechts und links am Strome erheben sich pallastähnliche Häuser, und drei Brücken verknüpfen die mit massiven Kayen eingefaßten Ufer. In dieser prächtigen Straße (Lungharno, der Gegenstand des Stahlstichs,) ist alles, selbst das Pflaster, Cararischer Marmor. Schweigen herrscht auf dem Flusse und in der Straße ist’s leblos; schweres, eisernes Gitterwerk sichert die Fenster der Erdgeschoße und erinnert an die unruhige, große Vergangenheit; hie und da rankt Epheu hinein, oder immerblühendes Geisblatt; aber doch ist alles so ganz, doch scheint alles so neu, als hätte die Kelle die Mauern erst gestern verlassen, und die Stadt harre blos des Einzugs ihrer Bevölkerung. Nur in den entlegenen Stadttheilen ist die Oede mit unheimlichen Gefühlen verbunden. Binsenartiges Gras bedeckt dort Gassen und Plätze, und manches verschlossene, unbewohnte Haus hat das Gepräge des Verfalls. –
Pisa besitzt sehr berühmte Prachtgebäude, unter welchen der Dom die erste Stelle einnimmt. Ganz von Marmor und von ungeheuerer Größe, gibt er Zeugniß von dem unermeßlichen Reichthum der Pisaner zu einer Zeit, als Venedigs und Genua’s Glanz erst im Keimen war. Er ward im 11ten Jahrhundert in griechischem Styl und von griechischen Baumeistern aufgeführt, in Form eines Kreuzes, dessen Länge 400, und dessen größte Breite 260 Fuß mißt. Das Langhaus hat 5 Schiffe, durch 38 Porphyrsäulen getragen, deren größte 102 Fuß hoch sind. Die innere Ausschmückung durch Malerei und Sculptur machen diese Kirche zu einem Tempel der Kunst.
Nahe dabei steht der berühmte, schiefe Glockenthurm des Doms, mit seiner schraubenförmig sich bis zur Höhe von 150 Fuß sich aufwindenden Säulengallerie, das Werk eines deutschen Meisters, Wilhelm von Insbruck. Alle Thürme Pisa’s stehen übrigens, des nachgebenden Sandgrundes wegen, etwas aus dem Lothe. Die Taufkirche (BAPTISTERIO) steht auf dem nämlichen Platze. Erbaut im 12ten Jahrhundert gilt sie als das schönste Muster des byzantinisch-gothischen Styls.
Für Pisa’s Stolz aber, für sein CAMPO SANTO, widmen wir einen besondern Artikel in unserm nächsten Hefte.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1836, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_3._Band_1836.djvu/108&oldid=- (Version vom 2.8.2024)