Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band | |
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Bewohner jährlich über 100,000 Pfund Käse verfahren. Wohlstand und Reichthum würden allgemein unter ihnen seyn, ohne die sich jährlich wiederholenden Verwüstungen, welchen sie durch Lavinen, Schneestürme, Bergstürze und durch die oft in schönen Cascaden daß Thal überströmenden Schneewasser ausgesetzt sind. –
Der Gletscher, der sich links auf unserm Bilde von einer hohen Felswand in das Thal herabsenkt, wird von Reisenden zuweilen, obschon nicht ohne Gefahr, erstiegen, um eines der merkwürdigsten Naturschauspiele zu genießen. Er führt nämlich auf das sogenannte Eismeer, dorthin, wo die weißen Firnen über die schwarze Wand der Jungfrau herüber blinken. Seinen Namen hat es deshalb, weil seine Oberfläche erstarrten Meereswellen ähnlich sieht. Alles erinnert in dieser Oede an Tod und Vernichtung; und doch herrscht auch hier noch die ewige Kraft, das ewige Wirken der Natur! Das hörbare Sickern des Wassers, das Einstürzen der Eisoberfläche, das Rollen der stürzenden Eisblöcke, das sturmähnliche Brausen im Innern dieser in fortwährendem Bilden und Zersetzen begriffenen Massen, die Schwingungen und Erschütterungen des Bodens, endlich das bald dumpf rollende, bald gräßlich krachende Donnern der platzend spaltenden, Eisfelder selbst – Alles zeigt eine innere Entwickelung und ein inneres Leben, ein geheimnißvolles, stetes Zeugen und Zerstören, das die Seele mit Bewunderung und mit Ehrfurcht vor dem Schöpfer erfüllt.
Eine höchst merkwürdige und, ihren Ursachen nach, noch unerforschte, historische, aber gewisse Thatsache ist es, daß der große Raum, welcher vom Schreckhorn, Wetterhorn, Finsteraarhorn, Grimsel und der Jungfrau eingeschlossen und jetzt ganz mit Gletschern, die sich über einander thürmen, angefüllt ist, einst bewohnt war. Vor vielen Jahrhunderten befanden sich in dieser unzugänglichen Wüste die herrlichsten Alpenthäler, durch die eine lebhafte Saumroßstraße nach dem Wallis ging. Noch zeigt man im Grindelwald die Glocke einer Kapelle, die auf einer Stelle jener Wüste gestanden, auf der jetzt ein über 1200 Fuß hoher Eisberg sich lagert, und noch vor drei Jahrhunderten sah man aus einer Gletscherwand Gemäuer eines Kirchthurmes hervorgucken, – schauerliches Zeichen des untergegangenen blühenden Lebens.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1835, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_2._Band_6._Auflage_1835.djvu/58&oldid=- (Version vom 15.6.2024)