Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band | |
|
Seele des Betrachtenden wird überwältigt durch den Anblick dieser Ruinen der Minervenstadt, aus der Cultur und Civilisation hervorgingen, um über die Erde zu schreiten.
Der Tempel des Theseus, erbaut von Cimon, des Miltiades Sohn, hat unter allen Monumenten Athens und ganz Griechenlands den Kampf mit der Zeit am siegreichsten bestanden und von den plündernden Händen antiquarischer Räuber am wenigsten gelitten. Er steht auf einem wüsten Hügel am Westende der (neuern) Stadtmauer, zwischen den Thoren von Morea und Thrako. – Wie alle altgriechischen Tempel, ist er vom Fundament an bis zum Dache durchaus von Marmorquadern aufgerichtet, die auf’s genaueste, als wären sie zusammengeschliffen, an einander gefügt sind: – ganz unähnlich den Bauwerken Roms, welche ihrer Marmorbekleidung beraubt, mit wenigen Ausnahmen, nur Massen von Ziegelwerk darstellen, die durch ihre Größe in Erstaunen setzen, aber selten das Auge erfreuen. – Der Theseus-Tempel ist das vollkommenste Muster des dorischen Styls; er zeigt die Schönheit und Anmuth desselben mit der größten Wirkung. Obschon die Ornamente im Innern und Aeußern längst verschwunden sind bis auf wenige verstümmelte, so ist doch der architektonische Theil des Gebäudes, bis auf das Dach der Cella und bis auf einen kleinen Theil des Portikus, noch ganz erhalten. Der Tempel hat 6 Säulen auf jeder Fronte und 13 auf der Seite, zusammen also 34. Sie haben jede 20 Fuß Höhe. Rund um den Tempel standen kolossale Götter- oder Heroenbilder; an der westlichen Seite erkennt man noch ihre Postamente. Das Innere des Portikus ist (jetzt fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt) mit Skulpturen geschmückt; Frieße, welche den Kampf der Centauren und Lapithen vorstellen. Das Innere der Cella ist wüst und dient seit vielen Jahren als Begräbnißstätte der in Athen verstorbenen Fremden. Lord Byron, der für Griechenruhm begeisterte und gefallene Dichterheld, wünschte hier seine Ruhestätte zu haben; aber die Familie forderte seine Gebeine und schaffte sie nach England.
Der Theseustempel ist schon von Baumeistern des Alterthums oft kopirt worden; häufig auch in unsern Tagen, in München, Manchester, Wien, Philadelphia und Petersburg. – Alle diese neuern Nachbildungen aber geben von der Herrlichkeit des Atheniensischen Baues nur unvollkommene Begriffe.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1835, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_2._Band_6._Auflage_1835.djvu/155&oldid=- (Version vom 24.6.2024)