Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band | |
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den Huron, Michigan, Erie und Ontario. Sie stehen mit einander durch den abfließenden Strom in Verbindung, der bei seinem Austritt aus dem Ontario den Namen Lorenzo annimmt und seine Fluthen, auf einer Strecke von 200 Meilen, majestätisch, wie ein wogendes Meer, dem atlantischen Ozean zuwälzt. – Der Canal, welcher den 500 Fuß höher liegenden Erie mit dem Ontariosee verbindet, heißt der Niagara. Die Landenge zwischen beiden ist ein Bergrücken, der sich anfangs sanft der Ebene zuneigt, dann aber in einer lothrechten Felsenmauer von zwei bis dreihundert Fuß Höhe endigt. Durch diesen Damm hat sich der Niagara sein Bett gewühlt, und sein Sturz über dessen Wand in die Ebene herab, in einer Breite von 200 Fuß, bildet, 6 Stunden vom Niagara-Fort, den herrlichsten aller Wasserfälle der bekannten Welt.
Schon eine Viertelstunde vom Sturze neigt sich das Flußbett so sehr, daß man, den Strom hinauf sehend, einen Wasserberg zu erblicken glaubt, der seine hunderttausend Wogen mit unbeschreiblicher Schnelligkeit und Gewalt der gähnenden Oeffnung eines tiefen Schlundes zudrängt. Noch ehe er die Wand erreicht hat, sind seine Wasser in weißen Gischt, der aber dicht und glänzend wie Krystall scheint, aufgelös’t. Der Wasserfall wird in zwei Arme von ungleicher Breite durch einen schwarzen Felsen getrennt, der mit breitem, bewaldeten Haupte, Einsturz drohend, weit über das Wogen-Chaos sich herüberbeugt.
Lange hielt man dieses Eiland für unzugänglich; aber der Versuch, schiffbrüchige Indianer zu retten, welche den Felsen erklettert hatten und dem Hungertode preisgegeben schienen, führte zur Entdeckung, daß der Strom auf einer Seite ein seichtes Bett habe, und nach unglaublicher Mühe gelang es der Besatzung des Niagara-Forts, eiserne Pfähle in das Felsenbett von Ufer zu Ufer festzurammeln und durch einen darüber gelegten Steg den Zweck ihrer menschenfreundlichen Anstrengung zu erreichen. – Später wurde dieser Steg befestigt, und er wird jetzt ohne Gefahr von denen überschritten, welche das prachtvolle und graußende Schauspiel des Wogenkampfes inmitten desselben betrachten wollen. Von der Felsenstirne führte früher ein schwindlicher Steg abwärts zu einem weithervorragenden Felsenportale, das die Fluthen in weitem Bogen überstürzten. Vor einigen Jahren riß aber des Wassers Sturmgewalt diesen Theil der Insel ab und in den Abgrund. –
Die Wassermasse, welche auf der Süd-Seite herabstürzt, wölbt und rundet sich wie eine ungeheuere Walze in dem Augenblick, wo sie über den Rand braust, und rollet dann, einer Schneelavine gleich, herab, in den Strahlen der Sonne mit allen Farben des Regenbogens prangend. Der ungleich breitere Sturz auf der Mitternachtseite steigt, wie eine Wassersäule der Sündfluth, lothrecht in den furchtbaren Schattengrund. Meilenweit erzittert die Erde von dem Anprall der ungeheuern Woge auf den Boden der Tiefe und in Schaumwirbeln lös’t sie sich auf, welche, über die Wälder sich erhebend, von ferne Rauchsäulen gleichen, als von einem Brande vieler zugleich flammender Städte. Die Wände des furchtbaren Catarakts bestehen aus schwarzgrauen Felsenzacken, die unter’m weißen Wogenschleier wie schauerliche Gespenster sich ausnehmen und mit jedem Augenblick ihre Gestalt zu ändern
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1835, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_2._Band_6._Auflage_1835.djvu/139&oldid=- (Version vom 24.6.2024)