Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band | |
|
Fenstern, in die nie ein Sonnenstrahl dringt und wo nie eine Straßen-Lampe leuchtet; jene Gäßchen, in welchen Dem, der Muth hat, sie zu betreten, der Hunger angrinzt, der Pesthauch des Elends anweht und der Schrei des hülflosen Jammers in die Seele fährt. – Da und in den Winkeln, Höfen und Durchgängen um Holborn und St. Giles hausen jene Verlassenen, welche die Sünde selbst nicht mehr ernähren mag, jene armen, ekelhaften Opfer der Lust, denen ein Misthaufe ihr Sterbebette ist. Da wohnen die Tausende auch, welche die Spitäler zum Anlernen junger Aerzte und Chirurgen mit Kranken versorgen und die Anatomen mit Cadavern; hier und so nur hier sieht man die Scenen der gräßlichsten und empörendsten Entblösung von Allem, was man dem Menschen als erste Lebensbedürfnisse zuerkennt; – Auftritte – und diese unverborgen, auf offener Straße, – die einem das Haar sträuben und das Herz zusammen schnüren. Diese Gäßchen sind’s, wo der Familienvater wohnt, der mit eisernem Fleiße am Webestuhl nicht so viel verdienen kann, um seine Kinder zu sättigen, geschweige, sie zu kleiden, sie zu erziehen – und zu ihm ist’s, daß, die Kinder ihm abzunehmen, die Mäkler kommen, jene Elenden im Solde der frechen, reichen Bösewichter, die täglich Blumen der Unschuld zu knicken sich zum Gesetz gemacht. Aus diesen Stadtvierteln kommen auch die zerlumpten Mütter geschlichen, welche am frühen Morgen schon, ehe die Menge durch die größern Straßen wogt, den Koth derselben durchwühlen, suchend nach den ekelhaftesten Resten menschlicher Nahrung; dort ist’s auch, wo dem Forscher jene schmuzigen, gekrümmten, hohläugigen, alten Weiber begegnen, welche „Hundefleisch“ (nicht von Hunden, sondern für diese von gefallenen Thieren) in zierlichen Streifen um weiße Stäbchen gewickelt: A PENNY A POUND, A POUND A PENNY! mit klagender Stimme ausrufen. Wohl vernimmt er in diesen Höhlen des Mangels nie das Bellen eines Hundes; wenn er aber hungerzernagte Menschen, 2 bis 3 zusammen, gierigen Blicks um ein solch Stäbchen handeln sieht, so ahnet er des Räthsels Lösung. – Dann eilt er schaudernd und beflügelten Schrittes hinaus in die helle breite Straße voll Paläste, sieht das Gewimmel wohlgekleideter, wohlgenährter Menschen, hört das Donnern glänzender Carossen, daß immerwährende, und das Gesehene dünkt ihm ein böser Traum! Und doch war’s Wirklichkeit und ein Tropfen erst aus dem Ozean des Menschenelends und der Verworfenheit, der in der unermeßlichen Weltstadt wogt![1]
London hat gegenwärtig etwa 320,000 Häuser in 13500 Straßen (Commercial-Road und Oxfordstreet die längsten; New-Bondstreet, im Westende, die der Mode und der vornehmsten Welt; Cheapside in der City und der Strand die lebhaftesten; Regentstreet die prachtvollste) und 110 Märkte und Squares. Der Kirchen und Bethäuser für alle Religionen und Glaubensverschiedenheiten sind über 500; (St. Paul’s, der Peterskirche ähnlich und nach ihr die größte in der Welt). Armenversorgungsanstalten und Hospitäler gibt es 120. Leptere sind meistens prachtvolle Paläste mit Gärten und Parks, manche mit mehr als 1000 Schlafstellen (Bethlehem, St. Lukas, das für Findlinge etc.); Invalidenhäuser sind Greenwich- und Chelsea-Hospital, letzteres für die
- ↑ Die Zahl der Einwohner London’s, die von Almosen und von öffentlichen Unterstützungen zu Hause leben, ist 120,000 und außer diesen werden etwa 26,000 in den Spitälern und wohlthätigen Anstalten versorgt. Der täglichen Bettler sind 15–20,000; der Dirnen weit über 100,000 und Schreiber Dieses zählte an einem Abende auf einem halbstündigen Wege aus der City nach dem Theater über 1600, die ihm begegneten. Er hatte mit einem Fremden, dem es unglaublich schien, gewettet, daß ihnen mindestens 1000 dieser in London Jedem kenntlichen armen Geschöpfe begegnen würden. – Knaben, die sich von Taschendiebereien und Mausereien ernähren, gibt es 8000. Die Zahl der erwachsenen Gauner von Profession ist das Dreifache. Jährlich geschehen 120 bis 130 Mordthaten, die zur Kenntniß der Behörden kommen; aber die Zahl der Ermordungen, (namentlich an Fremden, in verrufenen Häusern, in denen die Unzucht die Kupplerin des Meuchelmords ist), von welchen man nie was hört, ist gewiß noch größer.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1835, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_2._Band_6._Auflage_1835.djvu/131&oldid=- (Version vom 22.6.2024)