Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band | |
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Grundzüge der italienischen; nur treten sie hier schärfer als bei den nördlichen Stammgenossen hervor. Größte Leidenschaftlichkeit beherrscht den Neapolitaner, aber eben so groß ist seine Gutmüthigkeit; er ist treuherzig, frohsinnig, mäßig; selten hört man von blutigen Aeußerungen seines jachen Wesens, noch seltener von Ermordungen. Der Hang zur Unsittlichkeit und zum Genusse ist allgemein; ihn entschuldigt die Natur des Südens.
Neapel’s Umgebung ist ein immer blühender Wundergarten, geschmückt mit Allem, was die Natur Großartiges und Herrliches zeigt und mit unzähligen Ueberresten griechischer und römischer Kunst. Geht man aus der Stadt nach Abend hin, so tritt der Bergrücken des Posilipp entgegen, bedeckt mit Orangenhainen und Weingärten, freundlichen Landhäusern und den prächtigen Trümmern römischer Grabmäler und Villen. Ein Arm desselben streckt sich dem Meere zu; diesen durchschneidet ein 600 Schritt langer und 18 Fuß breiter, hober, gewölbter Gang, (die Grotte des Posilipp), ein Römerwerk und des Römer-Namens würdig. Die uralte Sage des Volks rechnet die Ausgrabung dieses Tunnels dem Virgil an; der, – das Volk hält ihn für einen Zauberer – mit des Teufels Hülfe ihn in einer Nacht zu Stande gebracht. Diese Grotte führt in ein kleines, rundes Thal, dessen Boden der See Agnano ganz bedeckt. Er ist ringsum von hohen, bewaldeten Bergen umschlossen, auf deren höchstem das prächtige Kloster Camaldoli prangt. Von der Terrasse desselben hat man eine der reichsten und entzückendsten Aussichten der Welt, weit über die Campania Felix, über die Inseln und das Meer hin. Seitswärts, am Ausgange der Höhle, in einem Weinberge, zeigt man das Grabmal Virgil’s. An den felsigen Ufern des Sees, der ein versunkener Krater zu seyn scheint, befinden sich eine Menge Höhlen, aus denen heißer Schwefeldampf emporsteigt. Sie werden von dem gemeinen Mann als Bäder benutzt. Auch mehre warme Quellen (GLI PISCARELLI), welche in der Nähe sprudeln, zeugen von unterirdischem Feuer. Unter jenen Höhlen wird die Hundegrotte (GROTTA DEL CANE) von allen Reisenden besucht. Eine Schicht kohlensaurer Luft bedeckt fortwährend ihren Boden, in welche der Führer gemeinlich einen Hund hält, um die erstickende Wirkung des Gaßes zu zeigen. Daher der Name. – Von da leitet ein tiefer Hohlweg zwischen Gestrüpp und Felsen zur Solfatara (die CAMPI PHLEGRAEI der Alten), ein merkwürdiges, fast cirkelrundes, über 1000 Fuß im Durchmesser großes Thal, wahrscheinlich durch den Einsturz eines Feuerbergs entstanden, dessen Eingeweide noch nicht verglüht ist. Der mit einer weißlichen Erde überzogene Felsenboden erzittert und wankt bei jedem Tritte und aus seinen unzähligen Ritzen und Spalten dringen heiße Schwefeldämpfe, die im Finstern leuchten. Verdichtet hängen sie sich an hervorstehendes Gestein als schillernde, bunte Crystalle, das Grausige der stillen, von keinem Vogel, oder Thiere betretenen Gegend erhöhend. – Pozzuoli – in zweistündiger Entfernung von der Hauptstadt – ist das nächste Ziel des westlichen Ausflugs. Eine alte Römerstraße (VIA CAMPANA) führt dahin, wo lachende Fluren und Gärten und der Anblick des weiten Busens von Neapel die finstern Eindrücke jener unheimlichen Gegenstände bald verscheuchen. Auf dem Wege wird die Aufmerksamkeit
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1835, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_2._Band_6._Auflage_1835.djvu/108&oldid=- (Version vom 19.6.2024)