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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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besterhaltenen Ruinen in England bildet. Die Lage der Burg ist einzig; hoch prangt sie auf spitzigen Felszacken am Ufer eines breiten Stroms, und umgeben mit bewaldeten Bergen, über welche noch höhere ragen.
Auf einem Wege, der durch den Fels gehauen ist, dessen Wände Eppig und die wilde Rebe bekleiden, steigt man zu den äußern Mauern empor, welche, obwohl verfallen, noch eine ununterbrochene Linie bilden, die mehr als 6 Morgen Flächenraum umfaßt. Ein tiefer, aus dem harten Feld gesprengter, doppelter Wallgraben umgibt die Burg; über ihn führt ein hölzerner Steg nach dem finstern Burgthor und in den Hof. Schutt liegt in Haufen umher, Disteln wuchern und niedriges Gesträuch; aber fest und ganz streben die Mauern und schlanken Thürme auf, willens, noch vielen Jahrhunderten zu trotzen. Man zählt in der Burg 32 wohlerhaltene Thürme. Die Bevölkerung einer ganzen Stadt fände Platz in diesen Mauern, in welchen jetzt Krähen und Eulen zu Tausenden ihre Wohnung aufgeschlagen haben, die bei jedem Tritt des Besuchers in Schaaren und mit wildem Geschrei den Ruinen entflattern. Viele der innern Räume sind gewölbt, und diese sind fast alle noch gut erhalten. In dem halb eingestürzten Bankettsaal sieht man die hausgroßen Camine, an den Wänden der königlichen Zimmer Reste von Malereien, und die eisernen Haken, wo Rüstungen und Trophäen hingen. Im gut erhaltenen Closet der Königin zeigt man noch den Betaltar mit herrlicher Holzskulptur. Ueberall trifft man auf die Spuren alter Kunst, – an Gesimsen, Fenster- und Thüreinfassungen, Treppengeländen u. s. w. sieht man Schnitzwerke, freilich vielfach beraubt und verstümmelt. Hinfällige Wendel-Treppen, von denen die Stufen längst ausgebrochen sind, machen es möglich, einige der Thürme zu ersteigen. Das kleine Wagniß lohnt die imposante Aussicht auf das Meer und das Gebirge und in das betriebsame und gut angebaute Thal des Conway. Eine schöne Kettenbrücke mit Pfeilern, in Gestalt gothischer Thürme, führt dicht unter dem Schlosse über den Strom, und die nächsten Thürme des Schlosses selbst sind als Stützpunkte für das Werk benutzt. Seine ungeheuern Ketten verlieren sich ganz abenteuerlich in dem felsenfesten Gemäuer und von Weitem kann man das Alte vom Neuen so wenig unterscheiden, daß man eine prachtvolle Zugbrücke vor sich zu sehen glaubt, die mit dem majestätischem Schloß ein erhabenes und zusammenhangendes Ganze bildet. Man steht betroffen vor der unerwarteten Dekoration dieser mächtig krenelirten Steinmasse, an welcher die Erinnerung hängt von neun Jahrhunderten stolzer, erbarmungsloser Gewalt, kühner Siege und vernichtender Niederlagen, Thaten voll Blut und wilder Größe. Wenn dann der Sturm über die Gipfel der Wälder geht und der rollende Donner der Erinnerung seine Stimme leiht – dann sieht man mit Lust die Krähen aus den Fenstern flattern: denn sie verkündigen den Riesengang der Welt und nehmen dem aufgeschossenen Gedanken, daß in diesem Hause noch Leben sey, den Stachel. Das Recht des Stärkern, jenes Recht, das freien Völkern den Despotismus und die Sklaverei gebracht hat, an diesen Mauern steht’s noch geschrieben; aber sein Codex hat keine Geltung mehr. Die Zeit hat den Löwenvertrag zwischen dem Unterdrücker und Unterdrückten
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/66&oldid=- (Version vom 1.3.2025)