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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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Napoleon hat die Messiaden auf ein Jahrtausend in Verruf gebracht. Er trat in die Welt mit dem Beruf: ihr Erlöser zu seyn, und – schmiedete Ketten für sie, bis er selbst angekettet wurde. Die Hochstraße der Freiheit sollte er bauen, auf der die Völker glücklich, sicher und zufrieden wandern könnten durch die kommenden Zeiten, – und statt jener bauete er Hochstraßen für seine Heere; Eroberungs- und Schlachtenwege, nicht um zu befreien, sondern zu unterjochen. Aber es ist das Amt der Natur, daß sie die verkehrte Absicht der Menschen verbessere, und sie läßt manchen Keim Früchte tragen, an welche der Erzeuger selbst nicht dachte. Napoleons Werke überdauern seine Zwecke, und während die Nachwelt Nutzen aus ihnen zieht, segnet sie den Urheber und vergißt, was er gewollt hat. Viele der Fäden, welche dem gestorbenen Heros entfallen sind, spinnt sie emsig fort und leitet sie zu Zielen, welche dieser nicht im Auge hatte. So sind auch die Napoleonsstraßen über die Alpen, die für den Krieg erbaut waren, Beute des Friedens geworden, und die der Eroberer geschaffen hat zur Befestigung seiner Herrschaft und zur Unterjochung der Völker, nützen diesen zu Handel und Gewerbe.
Napoleon führte zwei Straßen aus Frankreich über Turin nach Italien, welche beide ihren Uebergang auf dem Nacken des Genèvre bewerkstelligen. Die eine dieser Straßen, und die frequenteste, geht von Turin über Susa; die andere über Pignerol durch das Thal des Clusone und über den Rücken des Sestrière. Diese letztere ist der kühnere, gewaltigere Bau, auch ihre Szenerie ist die größere und reichere.
Der Eingang in das Clusonethal bei Pignerol, einem kleinen, armseligen Städtchen, ist schön. Noch waltet hier der Charakter der fruchtbaren Ebene vor, in welcher das prächtige Turin sich bettet; aber allmählig engt sich das weite Thal, die Seitenwände erheben sich, sie rücken zusammen und alpinische Züge treten in die Physiognomie der Landschaft. Die Thalwindungen versperren bald die großartige Ansicht der Meeralpen und des Monte Viso; rauhere Lüfte wehen und die zartern Kinder der Flora von Piemont, der Granate feuriger Busch und das Mandelbäumchen, verschwinden. Während der Weg immer merklicher ansteigt, wälzt ihm zur Seite der wasserreiche Clusone mit Ungestum sich über das mit großen Blöcken von Granit und Gneiss bestreute Bette. An mehren Stellen wird der Raum zwischen den Bergwänden zur Schlucht und die Straße schneidet tief in die Felswände ein, welche bis zu 300 Fuß hoch senkrecht emporsteigen. Aber da, wo das Thal sich erweitert, zeigt es
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/123&oldid=- (Version vom 4.3.2025)