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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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über den Bosporus hinüber nach der asiatischen Vorstadt Stambuls zu wagen. Ich hatte Skutari noch nicht betreten und versprach mir einen interessanten Tag.
Mein Diener, den ich vorausgeschickt hatte, um eine Gondel zu miethen, während ich meine Toilette machte, wartete meiner am Kai mit einem bedeckten, bequemen Boote. Wir umschifften das goldene Horn, bei welchem Vorgebirge ich einen prächtigen Blick auf das gegenüber liegende Skutari genoß. Terrassenförmig steigen seine Häusermassen über einander auf, im Hintergrunde glänzen die blauen Gebirge der Halbinsel, und die vielen Moscheen mit ihren schlanken Minarets, welche bald einzeln emporsteigen, bald in Gruppen zusammenstehen, machen das Bild großartig und reich. Skutari würde, wäre es nicht eine Vorstadt von Konstantinopel, nach Größe, Schönheit und Bevölkerung, die erste Stadt des türkischen Asiens seyn. Es ist volkreicher als Smyrna, denn es hat gegenwärtig über 180,000 Bewohner. Die Schönheit seines Anblicks wird erhöht durch die Erinnerungen der klassischen Zeit. Hier läßt die Mythe die vor der Rache der Juno fliehende Io landen; hier ankerte die Flotte des mazedonischen Philipp, als er Byzanz belagerte; hier wurde sie von den Atheniensern geschlagen; und noch zeigt man die Stelle, wo die ehernen Kolosse standen, welche die dankbare Stadt zu Ehren des Tags und ihrer Befreier errichteten.
Während der Seefahrt hatte sich die gerunzelte Stirn des Himmels ausgeglättet und wir stiegen in Skutari, dem alten Chrysopolis, beim schönsten Wetter an’s Land. Die Hauptstraße öffnet sich am Kay und zieht sich mit nobler Perspektive eine Anhöhe hinan. Buden reiheten sich zu beiden Seiten und ein reges Leben war allenthalben. Hier beladen die Karavanen, die aus dem Innern von Asien kommen, ihre Kameele, die Schiffe der Wüste, mit den zu Wasser anlangenden Waaren. Man sieht die Kaufleute der asiatischen Völker in ihren malerischen Trachten: – Perser, Armenier, Syrer und die Handelsleute von Bagdad und Trapezunt. Die Kameeltreiber sind meistens Araber, und diese halbbekleideten, braunen, breitschulterigen Bursche, welche bis an die Zähne bewaffnet sind, erinnern lebbaft an die Gefahren ihrer Reise. Obschon die Karavanserais von Skutari äußerst weitläufige Gebäude sind, so reichen sie doch zuweilen nicht aus, um den tausenden, aus allen Theilen Asiens kommenden, Ladung suchenden Kameelen und ihren Begleitern ein Obdach zu geben.
Skutari ist weit mehr orientalisch, als Constantinopel selbst, wo die seit 20 Jahren entstandenen Reformen große Veränderungen in den Sitten hervorgebracht haben. In Skutari leben die Osmanli ungestörter in ihrem alten Wesen fort, und da fast die ganze Bevölkerung türkisch ist und deren Berührungspunkte mit den christlichen Europäern hier ungleich weniger sind, als in der Hauptstadt jenseits des Bosporus, so findet der Andrang des Neuen hier ungleich wirksamern Widerstand. – Die Bevölkerung von Skutari nimmt seit Jahren stets zu. Auf asiatischem Boden fühlt sich der Türke heimathlicher; – der alte festgewurzelte Glaube, das seiner Herrschaft in Europa keine Dauer beschieden sey, läßt ihn dort nie zum rechten Bewußtseyn der Sicherheit kommen. Darum zieht Alles herüber, was nicht durch Amt und Geschäfte an das Konstantinopel jenseits gebunden
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/118&oldid=- (Version vom 4.3.2025)