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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Afrika und Europa entzündet, welcher im Laufe zweier Jahrtausende die edelsten Lebenskräfte der größten Nationen der beiden Welttheile innerlich aufrieb und zerrüttete. In Spaniens Feldern würgten sich Rom und Karthago, und nachdem Sieger und Besiegte verblutet und untergegangen waren, brach über die Meerenge von Gibraltar der heißhungrige Löwe der Wüste in die Christenheit des Westens. Der grimme Gaukler im Hedschaz hatte ihn aufgescheucht, und wie der Gluthwind aus der Sahara, so kamen die Sarazenen aus ihren Einöden herüber gestürmt, um in Spanien eines der vier verheißenen Paradiese in Besitz zu nehmen. Es dauerte auf der pyrenäischen Halbinsel viele Jahrhunderte lang der größte Streit, den die Erde noch gesehen, bis endlich der Löwe des Islams vor der himmlischen Jungfrau aus dem Felde weichen mußte. Gebrochen war fortan die Kraft des Orients. Die Trümmer seiner Schaaren flohen über die Wogen in ihre Heimath zurück. Die Meerenge machte seitdem die Scheidewand zwischen Bibel und Koran, zwischen der Kultur des Ostens und des Westens. Auf dem einen ihrer Gestade steht das Kreuz, auf dem andern der Banner des Propheten. Die Pforte des Abendlandes aber ist ihm für immer verschlossen und die ehemaligen Weltstürmer sind in friedliche Nachbarn umgewandelt, oder sie tragen (wie in Algerien) das Joch eines christlichen Königs. Calpe, die alte, schwer gerüstete Europasburg, bedroht nicht mehr feindlich den Orient. Unter der flatternden Flagge Albions singt dort der Brite sein „Rule Britannia“ und sieht stolz herab auf die wechselnden Schicksale Spaniens und auf das eigene, innere, tiefbewegte Leben des Weltstaats, dem er angehört; den afrikanischen Nachbar, den sonst so gefürchteten, würdigt er kaum eines Blicks, denn er ist, ihn mit seinem Maßstab zu messen, in der That zu klein und geringfügig geworden. – Seitdem der große Streit Europa’s mit dem afrikanischen Atlantiden ein völlig abgeschlossenes Drama ist, seitdem ist Gibraltar’s und seiner Meerenge Bedeutung allmählich in ganz andere Beziehung getreten. Unter britischem Scepter ist aus einem Bollwerke Europas gegen Afrika eine Citadelle im britischen Weltreiche geworden, mit der es den Schlüssel zur Pforte des Mittelmeers an seinen Dreizack knüpft, und wodurch das Gewicht seiner Macht in’s Ungeheuere wächst, ja eine Menge Nationen und Staaten abhängig werden von seinem Willen. Gibraltar’s Besitz verleiht England die Diktatur in den Angelegenheiten vieler Länder Westeuropa’s und zugleich das Recht, die Geschicke des Orients zu leiten.
Das schöne Bild, welches diese Worte begleitet, zeigt das 1600 Fuß hohe, unersteigliche, europäische Felsgestade da, wo die Meerenge die geringste Breite hat. Jenseits sieht man die afrikanische Küste[1].
- ↑ Die Festung Gibraltar ist im III. Bande S. 16 beschrieben.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/224&oldid=- (Version vom 16.2.2025)