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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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„Wer lange leben will, der bleibe in Deutschland, besuche im Sommer die Bäder und lese im Winter die Protokolle der Ständeversammlungen. Wer aber Herz genug hat, die Breite des Lebens seiner Länge vorzuziehen, der komme nach Paris. Jeder Gedanke blühet hier schnell zur Empfindung hinauf, jede Empfindung reift schnell zum Genusse hinan; Geist und Herz und Sinn suchen und finden sich, und rasch und leicht hüpft die Welle des Daseyns dem Strome der Ewigkeit zu. – Paris ist der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart, das Fernrohr der Zukunft.“
Ein Anderer hat Paris mit einer Bühne verglichen, wo Jeder auf Kothurnen wandelt. In der That muß die einzelne Welle hoch aufschwellen, welche sich in diesem Ocean der Menschen bemerklich machen will, und selbst bedeutende Persönlichkeiten können da der Vergrößerung nicht entbehren, wo Alles auf Stelzen geht. Deshalb ist die Charlatanerie in Paris ein unentbehrlich Ding, und der hochgestellte Staatsmann, der gefeierte Akademiker, der Feldherr kann sie eben so wenig missen, als der kleine Krämer z. B., welcher seinen Namen und sein Waarenschild zehn Mal über und neben Thüren und Fenster malt, oder der Schlosser, der einen vergoldeten Schlüssel, groß genug für die Pforte des Himmels, dir vor die Nase hängt, oder der Coiffeur, welcher den lebendigen Bären hinter das Glasfenster seines Ladens zur Schau stellt, um die Leute glauben zu machen, daß er seine Pomaden aus dem ächten Fett der Bestien bereite.
Sogar der Tod geht hier auf dem Kothurn und die Charlatanerie begleitet den Sterblichen treu bis an die Schwelle des Schattenreichs. – Ein Leichenzug ist, nach deutschen Alltagsbegriffen, eine stille, ernste, fromme Feierlichkeit, in welcher die Verwandten, Freunde, Mitbürger einen Todten zur Ruhestätte begleiten. Man sucht dafür kein anderes Motiv, als Liebe oder Achtung. Ein Leichenzug in Paris hingegen ist vor Allem und wesentlich ein Schauspiel, um welches sich die Neugierde sammelt und durch welches die Überlebenden zu glänzen streben. Der Charakter der Trauer und der Wahrheit verschwindet: Pomp und Schein auf der einen, Vergnügen auf der andern Seite sind Alles. Am grellsten offenbart sich das bei den großen Leichenbegängnissen, die in einer Stadt wie Paris, wo alle Tage irgend ein durch seinen Reichthum, Rang oder Ruf bedeutender Mensch in’s kleine Kämmerchen einzieht, so häufig vorkommen. Es ist ein Spektakelstück und es setzt die Bevölkerung
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/191&oldid=- (Version vom 14.2.2025)