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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Baalbecks Ruinen, so herrlich sie auch sind, stehen doch denen von Athen weit nach, und sie lassen deutlich erkennen, daß die Zeit, wo die Gebäude entstanden, nicht mehr jene große Zeit war, wo begeisternde Ideen durch die Seele der Künstler hinflutheten, wie zur Periode des Perikles. Es ist eine gewisse Zahmheit und eine eigenthümliche Einförmigkeit in diesen Friesen, Entablaturen und Karniesen; alle Zierathen wiederholen sich und nicht zu einander Passendes ist oft verbunden. So hängen z. B. Festons von Trauben und Rebenblättern an Ziegen- und Pferdeköpfen. Armuth der Idee sieht überall durch, und die technische Vollendung, so sehr sie auch Bewunderung verdient, kann für die geistige Dürftigkeit nicht entschädigen. Sklavenwerk ist hier Alles, nicht das Werk der freien schaffenden Kunst, die im Römerreiche, wo der Despotismus sich vergöttern ließ, keine Stätte haben konnte.
Rückwärts muß man sehen, oder vorwärts, sucht man wahre Begeisterung der Kunst in ihren Werken. Rückwärts auf jene indischen Tempelhöhlen, in die Nacht der Berge hineingebrochen, in die hohlen Säulenhäuser an ihrem Fuße, auf die Ruinen des Nillands, deren Hieroglyphen von den Wundern der Zeiten stammeln und mit Obelisken auf zur Sonne streben; auf Griechenlands heitere Tempelhöhen und Cyklopenwerke; – oder vorwärts, auf unsere Münster des Mittelalters, deren Massen Riesin thürmten, deren Einzelheiten die künstlerische Hand von Zwergen ausgeführt zu haben scheinen; auf die Bilder, die von allen Wänden niederschauen, und auf die schwebenden Lichtgestalten, die in Feuersgluth aus den Fenstern strahlen. Da war freies Schaffen; wo aber der Meister dem äußern Zwang gehorcht, da wird der Künstler seine Bewegungen stets an die feste Formel binden, und indem ihm die Macht, mit den Traumgestalten seiner Seele den todten Stoff zu beleben, verloren geht, wird die Fertigkeit im Nachahmen seine höchste Leistung.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/110&oldid=- (Version vom 9.2.2025)