Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band | |
|
ist das weltberühmte Tempe, dessen Schönheiten die Schriftsteller des Alterthums begeisterte. – „Die Natur,“ sagt Aelian, „hat dieses Thal mit unvergleichlichen Reizen geschmückt; Epheu windet sich, gleich Weinreben, die hohen Bäume hinan, welche die Ufer des lieblichen Stromes beschatten, und bekleidet die schroffen Felsen. Lauben von Lorbeergebüschen, romantische Grotten und liebliche Hayne von Cypressen, Platanen, Pappeln und Eichen gewähren dem Wanderer zur Sommerszeit Schatten und Kühlung, und zahlreiche frische Quellen bieten ihm stärkendes Labsal, während die melodischen Stimmen der Vögel durch ihren Gesang ihn erfreuen. Auf dem sanft fließenden Strome schifft man im kühlen Schatten der überhängenden Zweige, umweht vom Weihrauchdufte, der rings von den Altären der Opfernden emporsteigt!“ – Die Altäre sind verschwunden; die Götter Homer’s bewohnen nicht mehr den vielgipflichen Olympos; der Schnee auf seinen Höhen, der sich sonst in den Palast des Zeus verwandelte vor dem umflorten Auge der Sterblichen und sie zu heiliger Begeisterung entflammte: er bleibt Schnee und der Wanderer, der ihm naht, friert; aber die Schönheiten der Natur im Thale an seinem Fuße sind Wahrheit. Darum gehören sie nicht ausschließlich einer Zeit und einem Glauben; sie erfreuen und entzücken in der Gegenwart noch, und Tempe, wenn auch von der verschönernden Idee entkleidet, bleibt für immer eins der lieblichsten Plätzchen der Erde.
Alle Alpenstraßen bieten dem Reisenden den Genuß grandioser und reizender Naturscenen in Fülle dar; auf keiner indeß ist die Mannichfaltigkeit derselben so groß, der Wechsel vom Lieblichen und Gemüthlichen zum Erhabenen und Erschütternden so reich als auf der Simplonstraße, jenes Werk, das unter allen Napoleon’s seinen Riesengeist am würdigsten bezeichnet. – Der Stahlstich vor uns, der auch als Kunstwerk ungewöhnlichen Werth hat, versinnlicht von jenen Naturscenen eine der schönsten. – Wenn man von Genf her auf der Simplon-Straße, die sich bald rechts, bald links vom Strome im Rhonethal aufwärts windet, die Bäder von Leuk passirt hat, gelangt man nach Visp. Hier öffnet sich eine der schauerlichsten Aussichten das Visperthal hinauf, welches, an 3 Stunden lang, enge an
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1833, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_1._Band_1._Auflage_1833.djvu/207&oldid=- (Version vom 11.6.2024)