Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band | |
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Noch einmal führen wir den Leser zur verwittweten Königin der Tiefe – dem trauernden Venedig.
Das Gebäude links auf unserm lieblichen Bilde, mit dem viereckigen Thurm, auf dessen Zinne vier unter der Last sich krümmende Colosse eine vergoldete Weltkugel tragen, über welcher die wetterwendische Glücksgöttin, als Windfahne, sich dreht, ist La Dogana. – Aufgeführt aus Quadern von weißem Marmor, imponirt dieses Werk durch seine Festigkeit und Dauer, die für eine Ewigkeit berechnet scheint; doch würde es in dieser Stadt von Marmor, wo so viele Wunder der Baukunst dem Auge sich entgegendrängen, kaum Aufmerksamkeit erwecken können, wären seine Ansprüche auf diese nicht von höherer Art. In diesem Gebäude, in welchem seit neun Jahrhunderten die Register über alle seewärts einkommenden Waaren und Schiffe, und wo letztere anhalten und verzollen müssen, geführt werden, war einst der Zentralpunkt, von dem man die Bewegungen des Welthandels beobachtete, jenes mächtigen Genius, der alle Venedig schmückenden Wunder des Reichthums und der Prachtliebe aus den Fluthen hervorrief. In diesem Gebäude war es, in welchem jenes berühmte Admiralitätsgericht seine permanenten Sitzungen hielt, und, im Beiseyn von Delegaten aller Handelsvölker der Erde, die die Schifffahrt betreffenden Rechtsfälle und Streitigkeiten in einziger und letzter Instanz entschied. Aber nicht nur ist die Dogana derjenige Ort, in dem die Erinnerungen an Venedigs Ruhm und Herrlichkeit wie in einem Brennpunkte zusammenlaufen – er ist auch der, welcher seinen Verfall und seine Verödung am ergreifendsten veranschaulicht. Man denke sich diesen weiten, tiefausgegrabenen Meerarm zur Zeit, als Venedig jährlich 8,000 Schiffe von hier aus nach allen Häfen und Buchten der bekannten Erde versegeln und eben so viel kommende hier anhalten sah: welch ein Gewimmel und Durcheinander von Flaggen, Menschen und Sprachen aller Nationen damals an dieser Stelle; – und jetzt? – die Marmorblöcke der Kayen sind mit Moos überzogen, Küstenhandel treibende Barken und Gondeln sind die einzige Staffage der öden, spiegelnden Fluth. Zwar ist, wohin das Auge sich wendet, überall noch Größe, Pracht, eine fast überirdische Herrlichkeit sichtbar; aber der Genius, der diesem Allen Leben gab, er ist entflohen und der Hauch des Todes und der Verwesung weht schon wie über Gräbern.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen und New York 1833, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_1._Band_1._Auflage_1833.djvu/153&oldid=- (Version vom 9.6.2024)