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Seite:Massenstreik, Partei und Gewerkschaften von Rosa Luxemburg.pdf/7

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[12] einer Woche standen sämtliche Webereien und Spinnereien still, und 40 000 Arbeiter waren im Generalstreik. Heute mag dieses Ereignis, an den gewaltigen Massenstreiks der Revolution gemessen, als eine Kleinigkeit erscheinen. In der politischen Eisstarre des damaligen Rußlands war ein Generalstreik etwas Unerhörtes, er war selbst eine ganze Revolution im kleinen. Es begannen selbstverständlich die brutalsten Verfolgungen, etwa 1000 Arbeiter wurden verhaftet und nach der Heimat abgeschoben, und der Generalstreik wurde unterdrückt.

     Bereits hier sehen wir alle Grundzüge der späteren Massenstreiks. Der nächste Anlaß der Bewegung war ein ganz zufälliger, ja untergeordneter, ihr Ausbruch ein elementarer; aber in dem Zustandekommen der Bewegung zeigten sich die Früchte der mehrjährigen Agitation der Sozialdemokratie, und im Laufe des Generalstreiks standen die sozialdemokratischen Agitatoren an der Spitze der Bewegung, leiteten und benutzten sie zur regen revolutionären Agitation. Ferner: Der Streik war äußerlich ein bloßer ökonomischer Lohnkampf, allein die Stellung der Regierung sowie die Agitation der Sozialdemokratie haben ihn zu einer politischen Erscheinung ersten Ranges gemacht. Und endlich: Der Streik wurde unterdrückt, die Arbeiter erlitten eine „Niederlage“. Aber bereits im Januar des folgenden Jahres, 1897, wiederholten die Petersburger Textilarbeiter nochmals den Generalstreik und errangen diesmal einen hervorragenden Erfolg: die gesetzliche Einführung des elfeinhalbstündigen Arbeitstages in ganz Rußland. Was jedoch ein viel wichtigeres Ergebnis war: Seit jenem ersten Generalstreik des Jahres 1896, der ohne eine Spur von Organisation und von Streikkassen unternommen war, beginnt im eigentlichen Rußland ein intensiver gewerkschaftlicher Kampf, der sich bald aus Petersburg auf das übrige Land verbreitet und der sozialdemokratischen Agitation und Organisation ganz neue Aussichten eröffnet, damit aber in der scheinbaren Kirchhofsruhe der folgenden Periode durch unsichtbare Maulwurfsarbeit die proletarische Revolution vorbereitet.

     Der Ausbruch des kaukasischen Streiks im März des Jahres 1902 war anscheinend ebenso zufällig und von rein ökonomischen, partiellen, wenn auch ganz anderen Momenten erzeugt wie jener vom Jahre 1896. Er hängt mit der schweren Industrie und Handelskrise zusammen, die in Rußland die Vorgängerin des japanischen Krieges und mit ihm zusammen der mächtigste Faktor der beginnenden revolutionären Gährung war. Die Krise erzeugte eine enorme Arbeitslosigkeit, die in der proletarischen Masse die Agitation nährte, deshalb unternahm es die Regierung, zur Beruhigung der Arbeiterklasse die „überflüssigen Hände“ nach ihren entsprechenden Heimatorten per Schub zu transportieren. Eine solche Maßnahme eben, die etwa 400 Petroleumarbeiter betreffen sollte, rief in Batum einen Massenprotest hervor, der zu Demonstrationen, Verhaftungen, einem Massacre und schließlich zu einem politischen Prozeß führte, in dem plötzlich die rein ökonomische, partielle Angelegenheit zum politischen und revolutionären Ereignis wurde. Der Widerhall des ganz „resultatlos“ verlaufenen und niedergeschlagenen Streiks in Batum [13] war eine Reihe revolutionärer Massendemonstrationen der Arbeiter in Nischni Nowgorod, in Saratow, in anderen Städten, also ein kräftiger Vorstoß für die allgemeine Welle der revolutionären Bewegung.

     Bereits im November 1902 folgt der erste echt revolutionäre Nachhall in Gestalt eines Generalstreiks in Rostow am Don. Den Anstoß zu dieser Bewegung gaben Lohndifferenzen in den Werkstätten der Wladikaukasischen Eisenbahn. Die Verwaltung wollte die Löhne herabsetzen, darauf gab das Donsche Komitee der Sozialdemokratie einen Aufruf heraus mit der Aufforderung zum Streik um folgende Forderungen: Neunstundentag, Lohnaufbesserung, Abschaffung der Strafen, Entlassung unbeliebter Ingenieure u. Sämtliche Eisenbahnwerkstätten traten in den Ausstand. Ihnen schlossen sich alsbald alle anderen Berufe an, und plötzlich herrschten Rostow ein nie dagewesener Zustand: jede gewerbliche Arbeit ruht, dafür werden Tag für Tag Monstre-Meetings von 15 000 bis 20 000 Arbeitern im Freien abgehalten, manchmal umzingelt von einem Kordon Kosaken, wobei zum ersten Male sozialdemokratische Volksredner offen auftreten, zündende Reden über Sozialismus und politische Freiheit gehalten und mit ungeheurer Begeisterung aufgenommen, revolutionäre Aufrufe in Zehntausenden von Exemplaren verbreitet werden. Mitten in dem starren absolutistischen Rußland erobert das Proletariat Rostows zum ersten Male sein Versammlungsrecht, seine Redefreiheit im Sturm. Freilich geht es auch hier nicht ohne ein Massacre ab. Die Lohndifferenzen der Wladikaukasischen Eisenbahnwerkstätten haben sich in wenigen Tagen zu einem politischen Generalstreik und zu einer revolutionären Straßenschlacht ausgewachsen. Als Nachklang erfolgte sofort noch ein Generalstreik auf der Station Tichoretzkaja derselben Eisenbahnlinie. Auch hier kam es zu einem Massacre, ferner zu einem Prozeß, und auch Tichoretzkaja hat sich als Episode gleichfalls in die unzertrennliche Kette der Revolutionsmomente eingeflochten.

     Der Frühling 1903 gibt die Antwort auf die niedergeschlagenen Streiks in Rostow und Tichoretzkaja: Der ganze Süden Rußlands steht im Mai, Juni und Juli in Flammen. Baku, Tiflis, Batum, Jelissawetgrad, Odessa, Kijew, Nikolajew, Jekaterinoslaw stehen im Generalstreik im buchstäblichen Sinne. Aber auch hier entsteht die Bewegung nicht nach irgend einem vorgefaßten Plan aus einem Zentrum, sie fließt zusammen aus einzelnen Punkten, in jedem aus anderen Anlässen, in anderen Formen. Den Anfang macht Baku, wo mehrere partielle Lohnkämpfe einzelner Fabriken und Branchen endlich in einen Generalstreik ausmünden. In Tiflis beginnen den Streik 2000 Handelsangestellte, die eine Arbeitszeit von 6 Uhr Morgens bis 11 Uhr Abends hatten; sie verlassen alle am 4. Juli um 8 Uhr Abends die Läden und machen einen Umzug durch die Stadt, um die Ladeninhaber zur Schließung der Geschäfte aufzufordern. Der Sieg ist ein vollständiger: Die Handelsangestellten erringen eine Arbeitszeit von 8 bis 8, und ihnen schließen sich sofort alle Fabriken, Werkstätten, Bureaux an. Die Zeitungen erscheinen nicht, der Trambahnverkehr kann nur unter dem Schutze

Empfohlene Zitierweise:
Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/7&oldid=- (Version vom 29.6.2019)