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Seite:Massenstreik, Partei und Gewerkschaften von Rosa Luxemburg.pdf/26

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[50] bloß die Lehre ziehen, daß es – wie die Gen. Frohme, Elm und andere wollen – von der russischen Revolution die äußere Form des Kampfes, den Massenstreik entlehnt und zu einer Vorratskanone für den Fall der Kassierung des Reichstagswahlrechts, also zu einem passiven Mittel der parlamentarischen Defensive kastriert. Wenn man uns das Reichstagswahlrecht nimmt, dann wehren wir uns. Das ist ein ganz selbstverständlicher Entschluß. Aber zu diesem Entschluß braucht man sich nicht in die heldenhafte Pose eines Danton zu werfen, wie es z. B. Genosse Elm in Jena getan; denn die Verteidigung des bereits besessenen bescheidenen Maßes der parlamentarischen Rechte ist weniger eine himmelstürmende Neuerung, zu der erst die furchtbaren Hekatomben der russischen Revolution als Ermunterung notwendig waren, als vielmehr die einfachste und erste Pflicht jeder Oppositionspartei. Allein die bloße Defensive darf niemals die Politik des Proletariats in einer Revolutionsperiode erschöpfen. Und wenn es einerseits schwerlich mit Sicherheit vorausgesagt werden kann, ob die Vernichtung des allgemeinen Wahlrechts in Deutschland in einer Situation eintritt, die unbedingt eine sofortige Massenstreikaktion hervorrufen wird, so ist es anderseits ganz sicher, daß, sobald wir in Deutschland in die Periode stürmischer Massenaktionen eingetreten sind, die Sozialdemokratie unmöglich auf die bloße parlamentarische Defensive ihre Taktik festlegen darf. Den Anlaß und den Moment vorauszubestimmen, an dem die Massenstreiks in Deutschland ausbrechen sollen, liegt außerhalb der Macht der Sozialdemokratie, weil es außerhalb ihrer Macht liegt, geschichtliche Situationen durch Parteitagsbeschlüsse herbeizuführen. Was sie aber kann und muß, ist, die politischen Richtlinien dieser Kämpfe, wenn sie einmal eintreten, klarlegen und in einer entschlossenen, konsequenten Taktik formulieren. Man hält nicht die geschichtlichen Ereignisse im Zaum, indem man ihnen Vorschriften macht, sondern indem man sich im voraus ihre wahrscheinlichen berechenbaren Konsequenzen zum Bewußtsein bringt und die eigene Handlungsweise danach einrichtet.

     Die zunächst drohende politische Gefahr, auf die sich die deutsche Arbeiterbewegung seit einer Reihe von Jahren gefaßt macht, ist ein Staatsstreich der Reaktion, der den breitesten Schichten der arbeitenden Volksmasse das wichtigste politische Recht, das Reichstagswahlrecht, wird entreißen wollen. Trotz der ungeheuren Tragweite dieses eventuellen Ereignisses ist es, wie gesagt, unmöglich, mit Bestimmtheit zu behaupten, daß auf den Staatsstreich alsdann sofort eine offene Volksbewegung in der Form von Massenstreiks ausbricht, weil uns heute alle jene unzähligen Umstände und Momente unbekannt sind, die bei einer Massenbewegung die Situation mitbestimmen. Allein, wenn man die gegenwärtige äußerste Zuspitzung der Verhältnisse in Deutschland und anderseits die mannigfachen internationalen Rückwirkungen der russischen Revolution und weiter des künftigen renovierten Rußlands in Betracht zieht, so ist es klar, daß der Umsturz in der deutschen Politik, der aus einer Kassierung des Reichstagswahlrechts entstehen würde, nicht bei dem Kampf um dieses Wahlrecht allein haltmachen könnte. Dieser Staatsstreich [51] würde vielmehr in kürzerer oder längerer Frist mit elementarer Macht eine große allgemeine politische Abrechnung der einmal empörten und aufgerüttelten Volksmassen mit der Reaktion nach sich ziehen – eine Abrechnung für den Brotwucher, für die künstliche Fleischteuerung, für die Auspowerung durch den uferlosen Militarismus und Marinismus, für die Korruption der Kolonialpolitik, für die nationale Schmach des Königsberger Prozesses, für den Stillstand der Sozialreform, für die Entrechtung der Eisenbahner, der Postbeamten und der Landarbeiter, für die Bemogelung und Verhöhnung der Bergarbeiter, für das Löbtauer Urteil und die ganze Klassenjustiz, für das brutale Aussperrungssystem – kurz, für den gesamten zwanzigjährigen Druck der koalierten Herrschaft des ostelbischen Junkertums und des kartellierten Großkapitals.

     Ist aber einmal der Stein ins Rollen gekommen, so kann er, ob es die Sozialdemokratie will oder nicht, nicht mehr zum Stillstand gebracht werden. Die Gegner des Massenstreiks pflegen die Lehren und Beispiele der russischen Revolution, als für Deutschland gar nicht maßgebend, vor allem deshalb abzuweisen, weil ja in Rußland erst der gewaltige Sprung aus einer orientalischen Despotie in eine moderne bürgerliche Rechtsordnung gemacht werden mußte. Der formelle Abstand zwischen der alten und der neuen politischen Ordnung soll für die Vehemenz und die Gewalt der Revolution in Rußland als ausreichender Erklärungsgrund dienen. In Deutschland haben wir längst die notwendigsten Formen und Garantien des Rechtsstaats, weshalb hier ein so elementares Toben der sozialen Gegensätze unmöglich ist. Die also spekulieren, vergessen, daß dafür in Deutschland, wenn es einmal zum Ausbruch offener politischer Kämpfe kommt, eben das geschichtlich bedingte Ziel ein ganz anderes sein wird, als heute in Rußland. Gerade weil die bürgerliche Rechtsordnung in Deutschland längst besteht, weil sie also Zeit hatte, sich gänzlich zu erschöpfen und auf die Neige zu gehen, weil die bürgerliche Demokratie und der Liberalismus Zeit hatten auszusterben, kann von einer bürgerlichen Revolution in Deutschland nicht mehr die Rede sein. Und deshalb kann es sich bei einer Periode offener politischer Volkskämpfe in Deutschland als letztes geschichtlich notwendiges Ziel nur noch um die Diktatur des Proletariats handeln. Der Abstand aber dieser Aufgabe von den heutigen Zuständen in Deutschland ist ein noch viel gewaltigerer, als der Abstand der bürgerlichen Rechtsordnung von der orientalischen Despotie, und deshalb kann diese Aufgabe auch nicht mit einem Schlag, sondern gleichfalls in einer langen Periode gigantischer sozialer Kämpfe vollzogen werden.

     Liegt aber nicht ein krasser Widerspruch in den von uns aufgezeichneten Perspektiven? Einerseits heißt es, bei einer eventuellen künftigen Periode der politischen Massenaktion werden vor allem die zurückgebliebensten Schichten des deutschen Proletariats, die Landarbeiter, die Eisenbahner, die Postsklaven, erst ihr Koalitionsrecht erobern, die ärgsten Auswüchse der Ausbeutung erst beseitigt werden müssen, anderseits soll die politische Aufgabe dieser Periode schon die politische Machteroberung durch das Proletariat sein!

Empfohlene Zitierweise:
Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/26&oldid=- (Version vom 29.6.2019)