Seine Schüchternheit und der scheue Zweifel waren verschwunden, und eine Kraft erwachte in ihm, eine seelische Kraft, die ihn hoch empor trug und vor der das geliebte Weib sich beugte.
Sie hatten die Rollen getauscht.
Bisher war es Lea gewesen, die in allen Dingen die Initiative ergriffen, welche die für das Weib so eng gesteckten Grenzen überschritten hatte, und mutig nur den Eingebungen ihrer Liebe gefolgt war. Und Ludwig hatte diesen Mut, der sie in den Augen anderer vielleicht höchst unweiblich hätte erscheinen lassen, verstanden und bewundert.
Jetzt war er es, der sie führte, und sie diejenige, die folgte.
Jetzt erst konnte er an hundert kleinen Zügen beobachten, ein wie echtes Weib Lea war, trotz der geistigen Freiheit, die sie für sich beanspruchte, und welch eine reine, sensitive Seele in ihrem Körper wohnte.
Sie hatten Stunden überirdischen Glückes, – Stunden, in denen ihre Liebe ihnen wie eine Offenbarung vorkam, wie ein Gebet .. und Thränen des Dankes in ihre Augen traten. Sie dankten dem Gott, an den sie kaum noch geglaubt hatten, dass er ihnen die Kraft schenkte, so zu
Hennie Raché: 'Liebe. Roman'. G. Müller-Mann’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1901, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Liebe_(Hennie_Rach%C3%A9).djvu/56&oldid=- (Version vom 10.11.2016)