Verehrte Anwesende!
Der freundliche Empfang, den Sie mir bereiten, zeigt mir, daß die Frage, die mit den Worten «Kunst und Sittlichkeit» aufgeworfen wird, von uns Allen schließlich nur in einem und demselben Sinne beantwortet werden kann. In jeder großen künstlerischen Epoche war und auch in unseren Tagen ist die Erkenntniß im Bewußtsein der Meisten lebendig, daß Kunst und Sittlichkeit im tiefsten Grunde miteinander verbunden sind. Das Bindewörtchen «und» sagt nichts Anderes, als daß eine Trennung beider undenkbar ist. Sehr begreiflicher Weise! Denn wollen wir es mit kurzen Worten zusammenfassen, so dürfen wir Sittlichkeit als etwas Künstlerisches bezeichnen, insofern nämlich Sittlichkeit die ausgebildete Form des Menschlichen in Gesinnung und Verhalten ist, und andrerseits die Kunst als ein Sittliches, weil ihr Wesen in dem sittlichen Gehalte des Menschen wurzelt. Also schon aus einer allgemeinsten Betrachtung ergiebt sich unmittelbar die innige Beziehung, in welcher Kunst und Sittlichkeit zueinander stehen. Unser Thema könnte daher als ein sehr leicht zu behandelndes erscheinen, da die Antwort sich ohne weiteres aufdrängt. Jeder befrage sein natürliches Gefühl und den gemeinen Verstand in sich, so bleibt ihm kein Zweifel, und doch! sobald es sich um eine eingehendere
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/8&oldid=- (Version vom 1.8.2018)