zwingt sich, schön und recht zu finden, was durch das Gefühl doch abgewiesen wird. Und weiter: wir haben uns ja selbst als Mitschuldige bekannt, und dies ist das Entscheidende. Gestehen wir uns ein, daß diese Erscheinungen in allgemeinen bedrohlichen Zeitverhältnissen begründet, daß sie deren laut mahnende Symptome sind, so müssen wir uns Alle bemühen, dem Übel zu steuern, denn wir selbst sind ja die Gestalter der Verhältnisse. Dies aber greift tief. Ein Jeder hat für die Gesundung unserer Kultur sein Ich voll einzusetzen. Auf welche Weise, das ist nicht schwer zu sagen. Als Erstes heißt es, sich eine klare Erkenntnis davon verschaffen, daß von dem Rückgang oder der Stärkung der Sittlichkeit das Schicksal unserer gesamten Kultur abhängt, zweitens die klare Erkenntnis davon, daß die Verheißung einer ganz neuen, mit allen Traditionen brechenden Kultur, einer neuen Kunstära mit ästhetischen Gesetzen, die nichts mit denen der Vergangenheit zu thun haben, ein Wahn ist. Wohl tauchen neue künstlerische Ausdrucksformen immer wieder in der Geschichte der Kunst auf, aber die ästhetischen Grundgesetze bleiben ewig die gleichen, und was diesen widerspricht, war und ist Verirrung in der Kunst. Das Dritte ist dies, daß wir uns, von solchen Erkenntnissen getragen, vom Niedrigen weg und in edler Sinnlichkeit und mit künstlerischer Begeisterung hin zum Hohen, Ewigen wenden, daß wir festhalten an dem, was unverrückbar die großen Führer der Menschheit, in welchen Persönlichkeiten auch immer das Erhabene gewirkt und sich geoffenbart hat, uns als Beispiel vor Augen gestellt haben, daß wir unsere bedrohte Bildung retten durch das erneute und vertiefte
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/39&oldid=- (Version vom 1.8.2018)