einer kleinen Minderheit als jeden Kunstverständnisses bar und dem «Fortschritt» feindlich verurtheilt werden dürfen. Haben die Prätentionen dieser Minderheit doch schon einen so starken Einfluß ausgeübt, daß ein großer Theil der gebildeten Welt ihm ganz oder halb verfallen ist. Selbst die Einsichtigeren sagen sich: es muß doch irgendwie wahr sein, was mit solcher Beharrlichkeit gepredigt und zugleich durch eine so umfängliche rastlose Kunstthätigkeit veranschaulicht wird. Ängstliche Scheu, für ungebildet oder zurückgeblieben zu gelten, wenn man anderer Meinung ist, hat sich des Einzelnen bemächtigt. Man hat den Glauben an sich selbst verloren — ein sehr bedenkliches Zeichen! Laut möchte ich einem Jeden zurufen: Vertraue doch deinem eigenen Gefühl und Urtheil! Was wir jetzt mühsam auseinandersetzen, das ist uns doch Allen, wie ich im Anfang sagte, unmittelbar klar, daß es nämlich gewisse, heute ungehindert sich ausbreitende Erscheinungen in der Kunst giebt, die unser sittliches Gefühl in Aufruhr versetzen. Und wir sollten dies unterdrücken, es zum Schweigen bringen? Nein! Was uns empört, sind unsittliche Dinge, welch künstlichen ästhetischen Glorienschein man ihnen auch verleihen mag, und wir haben nicht allein das Recht, sondern auch die Pflicht, sie zu verdammen. Unter dem Deckmantel der Kunst wirkt ein furchtbar Dämonisches, das uns in einen Abgrund hinabreißen muß, wenn wir ihm nicht mit Hülfe guter Geister widerstehen. Kunst wird das genannt? Ich sage: Nein! Was auf die Mehrzahl der Gebildeten unsittlich wirkt, das kann nicht künstlerisch sein. Dies ist meine These, die ich der anderen entgegensetze.
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/26&oldid=- (Version vom 1.8.2018)