Wenn hier also von der Sinnlichkeit des Menschen die Rede ist, so wird es eine solche sein, die vom Geist durchdrungen ist, und die immer wieder, so oft auch der Mensch dem Zwange niederer Kräfte verfallen mag, durch Erhebung zum Geistigen sich siegreich bewährt. Und dieser Sieg erweist sich in zweierlei: er zeigt sich in der Liebe, als der Verklärung, der Vergöttlichung gleichsam des Sinnlichen, und er zeigt sich in der Scham als der verhüllenden Wahrung eines Mysteriums.
Was das Unsittliche ist, ward damit bereits gesagt: es ist die ungeistige Sinnlichkeit und deren öffentliche Zurschautragung, in höherer Steigerung: das Unnatürliche, Pervers-Wollüstige.
Erstrecken sich die Forderungen der Sittlichkeit auf das gesamte menschliche Verhalten, so doch sicher auch auf die Kunst! Es fragt sich nur, ob diese aus sittlichen Absichten hervorgeht, also sich dienend verhält, oder ob sie aus einer ihr eigenen Nothwendigkeit sich frei entwickelt! Daß sie im Dienste der Sittlichkeit verwerthet ward und wird, darüber belehren uns die Epochen religiöser Kultur, dies sagt aber noch nicht, daß dem künstlerischen Schaffen eine moralische Tendenz innewohne. Sie wissen, daß die Frage das Thema lebhafter Diskussionen in der Weimarer Zeit gewesen ist, daß Herder für die moralische Absicht der Kunst eintrat, und Schiller und Goethe in schroffer Weise Stellung dem gegenüber nahmen. Mit unserer Auffassung von Kunst, wie wir sie soeben dargelegt, können wir bei aller Bewunderung des hohen sittlichen und kulturellen Strebens Herders nicht diesem recht geben, sondern müssen auf die
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/23&oldid=- (Version vom 1.8.2018)