Ausgestaltung unseres deutschen Wesens, wollen wir die Formen des Lebens zu einem Ausdruck dieses Wesens herausbilden, wollen wir mit einem Worte eine deutsche Kultur, so haben wir uns selbst Gesetze zu geben, wie der Künstler sie sich giebt — uns selbst müssen wir zu einem Kunstwerk zu machen bemüht sein. Und es gilt wahrlich nicht mehr zu zögern — wer möchte sich darüber täuschen, daß der egoistische Individualismus, die Willkür des Einzelnen, in einer erschreckenden Weise zunimmt, daß es für den ernsten Betrachter der Erscheinungen unserer Zeit Augenblicke giebt, in welchen er verzweifeln möchte an der Möglichkeit, diesem undeutschen und unchristlichen und unkünstlerischen blinden Walten roher Kräfte und Meinungen noch einen Damm zu setzen. Sehen wir denn nicht selbst von einer vorgeblichen «Philosophie», die in Wahrheit nur das irre Gedankenleuchten einer zum zerstörenden Wahn gewordenen Selbstvergötterung war, die verderblichsten Instinkte des brutalen Egoismus verherrlicht? Findet solche verführerisch blendende, den gemeinen Trieben schmeichelnde Lehre, welche alle unsere hohen Ideale in den Schmutz zieht, die ein schnöder Verrat an unseren größten Geistern ist, die an Stelle äußerer Beschränkung Zügellosigkeit, an Stelle innerer Gesetzmäßigkeit Willkür setzt, findet das Unsinnige der Aphorismen eines Nietzsche nicht sinnlosen Beifall?
Wenn solches möglich ist, was haben wir noch zu hoffen?
Und doch wollen wir uns die Hoffnung nicht rauben lassen, daß der Deutsche heute noch stark genug sei, sich
Henry Thode: Kunst, Religion und Kultur. Carl Winter’s Uinversitätsbuchhandlung, Heidelberg 1901, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst,_Religion_und_Kultur.pdf/23&oldid=- (Version vom 1.8.2018)