ist: das schwingende Elektron ist stets negativ geladen, während das positive festliegt; das Verhältnis von Ladung zu Masse beträgt 17 Millionen E. M. E.[1] pro Gramm; da nun ein Gramm Wasserstoff, d. h. eine Grammvalenz nur 9650 E. M. E. enthält, so folgt daraus, dass die mit dem schwingenden Elektron verbundene Masse nur etwa den zweitausendsten Teil eines Wasserstoffatoms beträgt. Die anfänglich meist stillschweigend eingeführte Annahme, dass das ganze Ion, d. h. chemisches Atom plus Valenzladung, schwinge, muss also fallen gelassen werden; wir müssen vermuten, dass die Ladung, ebenso wie bei der elektrolytischen Ausscheidung an den Elektroden einer Zersetzungszelle, so auch im lichtemittierenden Molekül eine selbständige Beweglichkeit hat, und dass die beim Zeeman-Phänomen in Betracht kommende Masse eben die des Elektrons selbst ist.
Damit wären wir denn zu einer Anschauung gelangt, die sich nahezu mit der alten Weberschen Annahme deckt, mit dem wichtigen Unterschiede allerdings, dass an Stelle der unmittelbaren Fernwirkung die vermittelte, durch den Äther fortgepflanzte Wirkung getreten ist und dass wir jetzt eine ganz bestimmte zahlenmässige Vorstellung von der Grösse der elektrischen Atome besitzen. Und noch ein Unterschied gegen Weber muss hier hervorgehoben werden. Weber nahm auf gut Glück hin in seinen theoretischen Betrachtungen stets die positiven Teilchen als die frei beweglichen an. Wir haben jetzt auf Grund des Zeeman-Effektes stets den negativen diese Stellung einzuräumen. Es hat sich ergeben, dass auch bei allen sonstigen Phänomenen, bei denen die Elektronen in Betracht kommen und von denen wir noch einige nachher werden kennen lernen, stets das negative Elektron als frei beweglich auftritt. Woher diese merkwürdige Einseitigkeit stammt, ob es gelingen wird, einmal auch das freie positive Elektron nachzuweisen, oder ob wir vielleicht an Stelle der dualistischen eine unitarische Auffassung der Elektrizität treten lassen müssen? darüber müssen wir die Entscheidung der Zukunft überlassen.
Der eben skizzierten Entwicklung des Elektronenbegriffs auf dem Gebiete der Lichttheorie folgte sehr bald eine ganz entsprechende auf einem rein elektrischen Erscheinungsgebiete:
Die elektrischen Entladungen in Gasen hatte man schon lange versucht, als einen der Elektrolyse verwandten Prozess zu betrachten. W. Giese[2] ist es, der zuerst dieser Hypothese durch Untersuchung der Leitung in Flammengasen eine gewichtige Stütze verlieh und auch versuchte, die Leitung in Metallen durch Wanderung von Ionen zu erklären.
Vor allem waren es aber die sogen. Kathodenstrahlen, denen man, zum Teil infolge der zu Ende 1895 erfolgten Entdeckung der Röntgenstrahlen, jetzt wieder die grösste Aufmerksamkeit zuwandte. – Plücker[3] und Hittorf[4] haben zuerst die eigentümliche grüne Fluoreszenz der Glaswände in sehr stark evakuierten Entladungsröhren genauer studiert. Im Laufe weiterer Untersuchungen, bei denen sich namentlich E. Goldstein[5] sehr verdient gemacht hat, zeigte sich, dass es sich hierbei um eine eigentümliche Strahlenart handeln müsse, die von der negativen Elektrode, der Kathode der Röhre, ausgehe und für die Goldstein deshalb den Namen „Kathodenstrahlen“ vorschlug. Das Verhalten dieser Strahlen im Magnetfelde, ihre Wärmewirkungen, ihre vermeintlichen mechanischen Wirkungen versuchte Crookes[6] durch die Annahme zu erklären, diese Strahlen beständen aus Gasmolekülen, die an der Kathode negativ geladen, von dieser wie beim elektrischen Kugeltanz abgestossen und in den Röhrenraum hineingeschleudert würden. Es liessen sich auch thatsächlich die meisten beobachteten Erscheinungen durch diese Hypothese ganz leidlich deuten.
Genauere Untersuchungen, namentlich zahlenmässige Prüfungen erwiesen jedoch sehr bald die Unhaltbarkeit der Crookesschen Hypothese, wenigstens in ihrer ursprünglichen Form. Leider hat man dabei, namentlich in Deutschland, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet; man hat die ganze Hypothese verworfen, weil die ganz spezielle Vorstellung, dass es sich um durch Kontakt geladene Moleküle handele, sich als falsch erwies. Aber man war nicht im stande, etwas Besseres an die Stelle zu setzen; je mehr Thatsachenmaterial angehäuft wurde, desto rätselhafter wurden die Kathodenstrahlen, und schliesslich kam es so weit, dass es fast als eines anständigen Physikers unwürdig galt, sich mit diesen einer quantitativen und theoretischen Behandlung so unzugänglichen Erscheinungen zu beschäftigen. Da kam plötzlich, von allem Rätselhaften das Rätselhafteste: die Entdeckung der X-Strahlen durch Röntgen und damit ein neuer Sporn, die Lösung der vielen Fragen in Angriff zu nehmen. Die aufgewandte Mühe sollte bald von Erfolg gekrönt werden:
Walter Kaufmann: Die Entwicklung des Elektronenbegriffs. S. Hirzel, Leipzig 1901, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kaufmann_Entwicklung_Elektronenbegriffs_1901.pdf/4&oldid=- (Version vom 20.8.2021)