401 (5.) Nachdem die Tyrannen die Thürme verlassen hatten oder, besser gesagt, durch Gottes Hand von denselben herabgeschleudert worden waren, flohen sie gleich in das Thal unter der Siloahquelle, wo sie sich von ihrer ersten Angst etwas erholten. 402 Hierauf machten sie einen Angriff gegen die Umwallung, bei dem sie aber, schon von Furcht und Noth gelähmt, keineswegs den kühnen Heldenmuth entfalteten, den die verzweifelte Lage gefordert hätte. Sie wurden von den Wachen zurückgeworfen und vollständig auseinandergesprengt, worauf die Einzelnen sich in die unterirdischen Gänge versteckten. 403 Die Römer aber waren unterdessen über die Mauern eingedrungen und hatten ihre Standarten auf den Thürmen aufgepflanzt, wo sie nun unter Waffenklang und Jauchzen ihre Siegeslieder anstimmten und das so unerwartet leichte Ende eines Krieges feierten, der einen so harten Anfang gehabt hatte. Denn ohne einen Tropfen Blutes zu vergießen, waren sie auf die letzte Mauer hinaufgekommen, so dass sie zunächst ihren eigenen Augen nicht trauten und in eine seltsame Verlegenheit geriethen, als sie jetzt keinen einzigen Gegner mehr vor sich sahen. 404 Dann aber ergossen sie sich, mit dem Schwert in der Faust, in die Straßen der Stadt und hieben in zügelloser Wuth alles in Stücke, was sie ereilten, und zündeten die mit Flüchtigen vollgefüllten Häuser an, dass alles miteinander verbrannte. 405 Wollten aber die Soldaten auf ihrem verheerenden Zuge einmal selbst in das Innere eines Hauses dringen, um Beute zu machen, so stießen sie regelmäßig auf die Leichen ganzer Familien und auf Dächer, die voll von Verhungerten lagen, bei deren Anblick sie, von kaltem Schauder gepackt, ohne etwas angerührt zu haben, wieder hinausstürmten. 406 So ergriffen sie aber beim Anblick dieser Todten waren, so gefühllos waren sie für die Lebenden. Wer ihnen unter die Hände kam, dem bohrten sie das Schwert in die Brust, so dass sich in den Straßen ganze Barrikaden von Leichen bildeten. Das Blut floss in der ganzen Stadt so reichlich, dass an vielen Stellen selbst die Flammen von seinen Strömen erstickt wurden. 407 Gegen Abend hörte das Gemetzel auf, indes das Feuer gerade bei der Nacht immer stärker um sich griff. 408 So stieg nun die Sonne am achten Gorpiäus über die Flammen Jerusalems auf, einer Stadt, die während der Dauer ihrer Belagerung allein schon soviele Leiden ausgestanden hat, dass dasselbe Maß von Glück, auf die ganze Zeit ihres Bestandes vertheilt, sie gewiss noch immer in den Augen der Menschen beneidenswert gemacht hätte. Und an diesen entsetzlichen Drangsalen war nichts anderes, als nur das Geschlecht schuld, das Jerusalem zuletzt hervorgebracht, und von dem es auch ins Verderben gerissen worden ist.
Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/486&oldid=- (Version vom 1.8.2018)