Jerusalem!“ 305 Auf alle Fragen des Albinus – so hieß der damalige Landpfleger – wer er sei, und woher er stamme, und warum er denn immer so schreie, hatte er gar keine Antwort, dafür aber wiederholte er unausgesetzt den Klageruf über die Stadt, bis endlich Albinus auf Narrheit erkannte und den Mann entließ. 306 Die folgende Zeit über bis zum Kriege näherte er sich weder einem Bürger, noch sah man ihn mit Jemand sprechen, sondern Tag für Tag, wie einem, der ein Gebet eingelernt hat, entquoll ihm nur die Klage: „Wehe, wehe Jerusalem!“ 307 Obwohl täglich von den Leuten geschlagen, hatte er nie einen Fluch für den, der ihn schlug, aber auch keinen Segen für den, der ihm zu essen gab: für alle hatte er immer nur dieselbe unheimliche, ominöse Antwort. Am lautesten erscholl sein Klagegeschrei an den Festtagen, 308 und trotzdem er durch sieben Jahre und fünf Monate so schrie, ward er niemals heiser und niemals müde, bis er endlich die Belagerung Jerusalems und damit die Erfüllung seiner verhängnisvollen Prophezeiungen schaute. Jetzt erst kam er zur Ruhe und zwar so: 309 Er gieng eben auf der Mauer herum und schrie mit einer mark- und beindurchdringenden Stimme sein „Wehe, wehe“ über die Stadt und das Volk und den Tempel, als er zuletzt auf einmal hinzusetzte: „Wehe, wehe auch mir!“ In demselben Augenblicke schnellte aus einer Balliste ein Stein auf, gerade auf ihn zu, und zerschmetterte ihn auf der Stelle, so dass sein Weheruf schon im Todesröcheln verhallte.
310 (4.) Wenn man das alles bei sich ruhig erwägt, so muss man zum Schlusse kommen, dass Gott für die Menschen die zarteste Sorge trägt und in der mannigfachsten Weise ihr Geschlecht auf die Mittel zu seinem Heile aufmerksam macht, und dass somit die Menschen nur an ihrer eigenen Thorheit und in ihrem selbstgewählten Elende zugrunde gehen. 311 Haben doch auch damals die Juden selbst ihr Heiligthum nach der Ueberwältigung der Besatzung in der Antonia viereckig gemacht, obschon in ihren Prophezeiungen deutlich geschrieben stand, dass Stadt und Tempel dann sicher fallen würden, wenn das Heiligthum die Form eines Viereckes bekäme. 312 Was aber die Juden am meisten für den Krieg begeisterte, das war ein doppelsinniger Prophetenspruch, der sich ebenfalls in den heiligen Schriften vorfindet und besagt, dass um jene Zeit aus dem Lande der Juden ein Herrscher der Welt hervorgehen werde. 313 Dieses Wort haben nun die Juden von einem der Ihrigen ausgelegt, so dass selbst viele weise Männer mit ihrem Urtheile hier fehlgegangen sind, während doch der Gottesspruch nur die Erhebung des Vespasian zur Kaiserwürde, die in Judäa durch das Heer erfolgte, hat andeuten wollen. 314 Es können ja doch nun einmal die Menschen dem Verhängnis, auch wenn ihnen ein
Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/475&oldid=- (Version vom 1.8.2018)