die auch dem Auge der Römer keineswegs verborgen geblieben ist, und durch welche zwar vor der Hand nur die Bürger, über nicht lange aber auch die eigentlichen Streiter hingerafft werden müssen. 371 Denn sollten auch die Römer von der Berennung abstehen und nicht mit gezücktem Schwerte in die Stadt hineinstürmen, es hält euch doch da drinnen ein Feind umklammert, vor dem jedes Schwert zerbricht, und der von Stunde zu Stunde riesig emporwächst. Oder könnt ihr etwa auch gegen den Hunger die Waffen erheben, um ihn niederzukämpfen, und könnt ihr allein unter allen Menschen selbst über körperliche Bedürfnisse Herr werden? 372 Es ist wahrlich keine Schande“, fuhr Josephus weiter fort, „wenn man noch Vernunft annimmt, bevor es zum Aeußersten kommt, und wenn man nach dem Rettungsanker greift, so lange es noch möglich ist. Sicher werden euch auch die Römer das Geschehene nicht entgelten lassen, wenn anders euer Frevelmuth wenigstens vor dem Abgrund noch Halt macht. Denn die Milde im Siege ist ihnen, sozusagen, angeboren, und gewiss werden sie auch weniger auf die Stillung ihres Rachedurstes schauen, als auf ihren eigenen Nutzen, 373 der wahrlich nicht darin besteht, nur mehr eine menschenleere Stadt oder ein wüstes Land zu besitzen. Das ist auch der Grund, warum euch noch jetzt der Cäsar seine gnädige Hand reichen wollte. Denn hat er einmal die Stadt mit stürmender Hand genommen, so dürfte er wohl Niemand mehr pardonieren, am allerwenigsten solche, die nicht einmal im äußersten Elende auf seine wohlwollenden Mahnungen hatten hören wollen. 374 Dafür aber, dass auch die dritte Mauer in Kürze erobert werden wird, sollten euch doch die bereits Gefallenen Beweis genug sein. Gesetzt aber auch, es wäre dieses Bollwerk wirklich unzerstörbar, so wird für die Römer noch ein anderer mit euch ringen, der Hunger!“
375 (4.) Diese gut gemeinten Worte des Josephus begleiteten viele Juden auf der Mauer mit ihren Spöttereien, viele mit Lästerungen, einige sogar mit Pfeilschüssen. Als nun Josephus mit seinen directen Rathschlägen bei den Juden nichts ausrichtete, wandte er sich nunmehr in seiner Rede den Beispielen aus der heimatlichen Geschichte zu: 376 „O ihr Unglücklichen“, rief er aus, „die ihr auf eure angestammten Bundesgenossen ganz vergessen habt, wie, ihr wollet mit dem Schwert in der Faust gegen die Römer streiten? Ueber was für einen Feind haben wir denn überhaupt je auf diesem Wege den Sieg errungen? 377 War es denn nicht Gott, der besondere Schöpfer des jüdischen Volkes, der sich desselben jedesmal, so oft es bedrückt wurde, rächend angenommen hat? Kehrt euch jetzt nur einmal um! Sehet ihr denn nicht, was für einen Ort ihr zu eurem Waffenplatz gemacht habt, und was
Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/413&oldid=- (Version vom 1.8.2018)