Ansprache an sie: „Ich wundere mich nur, mit welcher Zuversicht ihr allein noch, nachdem schon alle Städte erobert sind, den römischen Waffen zu trotzen waget, 94 da ihr doch sehen konntet, wie selbst viel stärkere Städte im ersten Ansturm in Trümmer gelegt worden sind, während andererseits alle diejenigen, welche sich den Römern auf Treue und Glauben ergeben haben, vor euren Augen in dem ruhigen Genüsse ihrer Güter dahinleben. Diese Gnade biete ich auch euch jetzt an, ohne euch im geringsten etwas wegen eures Uebermuthes nachzutragen. 95 Denn Nachsicht verdient die Hoffnung auf Freiheit, keine mehr aber ein aussichtsloser Starrsinn. 96 Wollet ihr euch nämlich meinen humanen Worten und der Zusicherung meiner Gnade nicht fügen, so werdet ihr die ganze Schärfe meines Schwertes fühlen müssen und nur zu bald die Entdeckung machen, dass eure Mauer für die römischen Maschinen bloß ein Kinderspiel ist, und dass das Vertrauen darauf euch vor allen Galiläern nur den traurigen Ruhm verleihen kann, freche Gefangene zu sein.“
97 (3.) Keiner aus der Bürgerpartei durfte sich an der Erwiderung auf diese Vorschläge betheiligen; nicht bloß das, sie durften nicht einmal die Mauer betreten, die absichtlich schon zuvor in ihrer ganzen Ausdehnung von dem Gesindel in Beschlag genommen worden war. Auch die Thore waren von Wachen besetzt, damit niemand, sei es, zum Zwecke der Capitulation die Stadt verlassen oder einige von den Reitern hineinlassen könnte. 98 Dafür ergriff Johannes das Wort und erklärte, dass ihm die Aufforderung zur Uebergabe sehr erwünscht komme, und dass er die Widerspenstigen zur Annahme derselben entweder bereden oder nöthigenfalls auch zwingen werde. 99 Indes müsse schon Titus jenen Tag – es war nämlich gerade Sabbath – dem jüdischen Gesetze zugute halten, weil es ihnen an diesem Tage nicht erlaubt wäre, sich auch nur in Friedensverhandlungen einzulassen, sowenig, wie zu den Waffen zu greifen. 100 Gewiss sei es auch den Römern nicht unbekannt, wie strenge der siebente Tag bei ihnen Woche für Woche von allen Geschäften freigehalten werden müsse: in der Verletzung desselben läge für den, der sie erzwingen möchte, kein geringerer Frevel, als für den, der dem Zwange nachgeben wollte. Uebrigens könnte ja ein Aufschub dem Titus keinerlei Schaden bringen. 101 Denn was sollte wohl Jemand bei der Nacht noch besonderes im Schilde führen, da es doch Titus freistehe, sein Lager rings um die Stadt aufzuschlagen und dieselbe scharf zu bewachen. 102 Andererseits aber wäre den Juden sehr geholfen, wenn sie ihre väterlichen Gesetze in keiner Weise zu übertreten brauchten. Wenn schon Titus ihnen wider alles Erwarten den Frieden gnädig gewähren wolle, so wäre es geziemend, auch die Gesetze bei denen,
Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/307&oldid=- (Version vom 1.8.2018)