Georg Christoph Lichtenberg, Franz Kottenkamp: W. Hogarth’s Zeichnungen, nach den Originalen in Stahl gestochen | |
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Figur 82 B 2, zeigt gar keinen Geschmack des Verfertigers, denn seine Linien sind ganz gerade. Figur 89 B 2 ist dagegen schöner, obgleich nur flüchtig gezeichnet. Im gewöhnlichen Leben wird man dieses noch mehr erkennen, wenn man den gerade gestreckten Finger eines Arbeiters mit dem nachläßig gehaltenen einer Dame vergleicht.
Bei dem weiblichen Körper findet sich überhaupt eine elegante Fülle, welche denselben hinsichtlich der Schönheit höher stellt, als sogar den eines schön gebildeten Mannes. Die in Grübchen hervorgebrachten Wellenlinien, so wie überhaupt die sanfteren Formen der Muskulatur unter der Haut, bieten dem Auge eine größere Mannigfaltigkeit der angenehm und einfach verbundenen Theile, so daß der weibliche Leib, in der Venus dargestellt, Figur 13 B 1, dem Apoll in jeder Hinsicht vorzuziehen ist, Figur 12 B 4. Hogarth hat dort am Block, welcher die Venus hält, eine gewundene Schlange zur weitern Erläuterung seiner Idee angebracht. Die Tauben sind nur ein mythologisches Attribut, und haben mit der Erläuterung des Systemes nichts zu thun.
Was die Verhältnisse in Darstellung des menschlichen Körpers wie aller Gegenstände betrifft, so ist das Princip derselben die Zweckmäßigkeit. Ein Hebel ist nach Verhältnissen richtig, wenn er stark genug ist, eine Last zu heben, ein Fisch, wenn er geschickt schwimmen kann u. s. w. Der menschliche Körper zeigt richtige Verhältnisse, wenn er den Zwecken entspricht, die eine einzelne Figur darstellen soll. Mathematisch durch Linien lassen sich dieselben nie bestimmen. Albrecht Dürer und Lamozzo, Figur 55 B 1, haben Fehler begangen, indem sie dieselben in ihren Darstellungen der Verhältnisse, die aus ihren Büchern auf dem Blatte entnommen sind, durch mathematische Abtheilungen bestimmen wollten. Ihr Buch mag für Anfänger in der Kunst von Nutzen sein; allein das dort angegebene Verfahren ist unzureichend für höhere Anforderungen. Man könnte höchstens Carrikaturen und groteske Gestalten nach Linien zeichnen, z. B. auf dem Kreuz, Figur 69 B 2, einen dicken Menschen, auf Figur 70 B 2 das Gegentheil, einen dünnen, auf dem daneben stehenden verschobenen Kreuze einen verdrehten Körper. Man mag dergleichen Linien zeichnen, wie man will, so bald man zeichnet, kommt
Georg Christoph Lichtenberg, Franz Kottenkamp: W. Hogarth’s Zeichnungen, nach den Originalen in Stahl gestochen. Literatur-Comptoir, Stuttgart 1840, Seite 1063. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hogarth_erkl%C3%A4rt_von_Lichtenberg_(Kottenkamp_Stuttgart_1840).pdf/1182&oldid=- (Version vom 29.12.2019)