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Seite:Hilbert - Mathematische Probleme.pdf/5

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David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse

Buche über das Ikosaeder die Bedeutung geschildert, die dem Problem der regulären Polyeder in der Elementargeometrie, in der Gruppen- und Gleichungstheorie und in der Theorie der linearen Differentialgleichungen zukommt.

Um die Wichtigkeit bestimmter Probleme in’s Licht zu setzen, darf ich auch auf Weierstrass hinweisen, der es als eine glückliche Fügung bezeichnete, daß er zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn ein so bedeutendes Problem vorfand, wie es das Jacobische Umkehrproblem war, an dessen Bearbeitung er sich machen konnte.

Nachdem wir uns die allgemeine Bedeutung der Probleme in der Mathematik vor Augen geführt haben, wenden wir uns zu der Frage, aus welchen Quellen die Mathematik ihre Probleme schöpft. Sicherlich stammen die ersten und ältesten Probleme in jedem mathematischen Wissenszweige aus der Erfahrung und sind durch die Welt der äußeren Erscheinungen angeregt worden. Selbst die Regeln des Rechnens mit ganzen Zahlen sind auf einer niederen Kulturstufe der Menschheit wohl in dieser Weise entdeckt worden, wie ja auch heute noch das Kind die Anwendung dieser Gesetze nach der empirischen Methode erlernt. Das Gleiche gilt von den ersten Problemen der Geometrie: den aus dem Alterthum überlieferten Problemen der Kubusverdoppelung, der Quadratur des Kreises und den ältesten Problemen aus der Theorie der Auflösung numerischer Gleichungen, aus der Curvenlehre und der Differential- und Integralrechnung, aus der Variationsrechnung, der Theorie der Fourierschen Reihen und der Potentialtheorie – gar nicht zu reden von der weiteren reichen Fülle der eigentlichen Probleme aus der Mechanik, Astronomie und Physik.

Bei der Weiterentwickelung einer mathematischen Disciplin wird sich jedoch der menschliche Geist, ermuthigt durch das Gelingen der Lösungen, seiner Selbstständigkeit bewußt; er schafft aus sich selbst heraus oft ohne erkennbare äußere Anregung allein durch logisches Combiniren, durch Verallgemeinern, Specialisiren, durch Trennen und Sammeln der Begriffe in glücklichster Weise neue und fruchtbare Probleme und tritt dann selbst als der eigentliche Frager in den Vordergrund. So entstanden das Primzahlproblem und die übrigen Probleme der Arithmetik, die Galoissche Gleichungstheorie, die Theorie der algebraischen Invarianten, die Theorie der Abelschen und automorphen Funktionen und so entstehen überhaupt fast alle feineren Fragen der modernen Zahlen- und Funktionentheorie.

Empfohlene Zitierweise:
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)