sie trotz ihres Sträubens warm ein, daß sie sich gar nicht rühren konnte. Jetzt schluchzte sie an meiner Brust in das Tuch hinein.
„Sarah, Kind, was gibt es? Sind vielleicht schlechte Nachrichten von Papa gekommen?“
„Ach nein,“ wimmerte sie, „ach nein, ach nein, ach nein!“
„Also was, mein Kind?“
„Ach, Herr Gerhard, ach, Herr Gerhard! Ich kann es nicht sagen, ich kann es nicht sagen.“
„Soll ich nicht Mama rufen?“ sagte ich.
Da wollte sie sich aus meinen Armen zur Erde werfen und schrie in einem heiseren Tone, den ich nie vergessen werde: „Nein, die nicht! Nie, nie mehr!“
Schon durchfuhr mich eine jähe Ahnung. Ich sprach ihr zu, so sanft ich es nur vermochte. Sie müsse sich beruhigen, an Papa denken. Das half. Aus dem krampfhaften Schluchzen gerieth sie in ein stilleres Weinen. Wie es weinte, das arme Kind. Allmählich lösten sich ihr auch die Worte, und da kam es endlich heraus, was ich errathen, befürchtet hatte. Sie sprach leise:
„Ich bin so unglücklich, weil – weil meine Mama einen fremden Mann lieb hat.“
Ich erschrak sehr und stammelte:
„Kind, Sarah, wie können Sie das glauben? Das ist eine thörichte Einbildung, so etwas darf man gar nicht denken.“
Sie antwortete tonlos:
„Sagen Sie mir nichts! Ich weiß. Ich weiß es seit einer Stunde. Ich wollte ins Wasser laufen. Ich war schon am Ufer. Aber Papa! Mein armer, theurer! Ich darf nicht vor ihm sterben, und er darf es nicht erfahren.
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/54&oldid=- (Version vom 1.8.2018)