Aber Herr Gerhard gab eine sonderbare Antwort: „Sie irren, Herr Hellmund, es sind dieselben.“
„Das verstehe ich nicht,“ erklärte Herr Hellmund.
„Natürlich. Woher sollten Sie diese Geschichte kennen – die vielleicht nur Einer kennt?“
„Und der sind Sie, Herr Gerhard?“
Dieser war aufgestanden und wollte ins Haus gehen. Eben kam Sarah Holzmann die Treppe herunter, ihr lichtes Kleid schimmerte durch das Halbdunkel des Stiegenraumes. Herr Gerhard blieb außen am Thor stehen, um sie vorbei zu lassen. Sie sah ihn nicht an. Da sagte der Maler laut:
„Wollen Sie mit mir später, wenn es nicht mehr so heiß ist, nach Sankt Leodegar gehen, Herr Hellmund? Hin durch den Wald und Abends im Boot wieder zurück. Wir haben Mond.“
„Mit tausend Freuden!“ erwiderte Herr Hellmund. „Ich werde Sie hier erwarten, bis es Ihnen beliebt, aufzubrechen.“
Herr Hellmund saß jetzt allein, zündete sich eine frische Cigarre an und betrachtete Sarah Holzmann, die ihm nach den leichten Andeutungen des Malers merkwürdiger vorkam. Wahrhaftig, noch ein Kind im kurzen Kleide; aber auf dem blassen Gesicht lag ein großer Ernst. Sie war zu ihrer Mutter hingetreten. Der Baron erhob sich gefällig und bot ihr den Weidenfauteuil an. Sarah Holzmann lehnte frostig ab, indem sie ihm ihr Buch zeigte, und ging dann gleich nach der Laube, die am Hügelrande seewärts stand. Frau Holzmann blickte ihrer Tochter achselzuckend nach und lud Herrn v. Rosen mit einer Bewegung ihrer fleischigen, ringebeladenen Hand ein, sich wieder hinzusetzen. Herrn Hellmund fiel es zum erstenmal auf, daß Frau und Fräulein Holzmann von den anderen Damen gänzlich abgesondert
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/48&oldid=- (Version vom 1.8.2018)