die Müdigkeit. Wir schliefen ein, wo wir saßen. Im ersten Sonnenschein weckte uns Joseph Müller lächelnd auf:
„Sie haben meine „Halkyone“ schon gesehen? Ich war mit ihr heute Nachts über Konstantinopel und Cypern. Ich will sie Ihnen jetzt bei Tage zeigen.“
Er führte uns den Berg hinauf. In dem Gebäude, das dicht am steilen Abhange des Felsens lag und einem Bootshause ähnelte, ruhte die „Halkyone“ auf eisernen Schienen. Ihre Form war etwas die einer Libelle, ihre harten Bestandtheile waren aus Aluminium, die weichen aus hundertblättriger weißer Seide. Joseph Müller bestieg das wundersame Fahrzeug und wendete sich mit einer fragenden Gebärde an uns. Wir folgten ihm. Mir schlug das Herz heftig. Zwei griechische Jünglinge, denen diese Luftreise schon vertraut war, schnallten uns an den Sitzen fest und schwangen sich dann behend hinten auf. Der Herr gab ein Zeichen, und wir glitten hinaus, hinauf. Ich hatte zuerst eine rechte Angst, aber dann wurde mir hoch und frei zu Muthe. Wir saßen hinter dem keilförmigen Windschirm aus Bergkrystall und empfanden kein Unbehagen, wie jäh wir auch dahinrasten. Aber zuweilen schwebten wir regungslos oder kreisten in einer weiten Spirale abwärts, wobei die schimmernden Flügel der „Halkyone“ denen des Adlers glichen. Waren wir dann schon dem Meeresspiegel nahe, so genügte der Druck auf einen Taster, um uns wieder schräg in die Höhe zu treiben. Einer der Griechen besaß ein goldenes Saitenspiel und jauchzte dazu alte Strophen. Ich nahm ihm die Harfe aus der Hand, um das Frühlingslied aus der „Walküre“ zu singen. Wir Alle sangen, wir konnten nicht sprechen. Nur der Herr der „Halkyone“ blieb schweigsam und ernst indes er uns durch die Lüfte steuerte.
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/38&oldid=- (Version vom 1.8.2018)