auf dem Opernballe zu Pais, wenn eine parfümirte und schamlose Schöne ihr rothes Haupt an meine Frackklappe lehnte. Immer war er da, dieser kleine Wahnsinn oder große Spleen – das Bewußtsein meiner selbst! … So kam ich auf meinen Kreuz- und Querfahrten auch nach Brüssel, und da fand ich zufällig die schöne Rosalinde.“
„Endlich! … War sie sehr schön?“
„Sehr! Es ist aber bloß ein Gemälde, hängt im Musée Wiertz. Dieser Maler Wiertz war ein großer Kerl. Das Bild, von dem ich spreche, trägt die Aufschrift: „Zwei junge Mädchen“. Es zeigt in rosiger Nacktheit ein junges Weib. Sie steht in Betrachtung versunken vor einem Skelett, auf dem ein Zettel klebt: „La belle Rosine“. Mir gefällt aber der Name Rosalinde besser, ich habe sie für mich umgetauft… Beim ersten Anblicke dieses Bildes war ich halb bestürzt und halb erfreut, wie wir es sind, wenn ein Fremder unsere heimlichsten dunklen Gedanken unvermuthet in Worte faßt. Das war für mich eine brüske Erleuchtung. Nicht, was er sagte, sondern daß er es sagte. Jeder Mensch denkt sich also genau das Gleiche; man ist aber stillschweigend übereingekommen, nicht viel davon zu reden. Und als ich dies weiter verfolgte, gelangte ich allmählich zu einem entgegengesetzten Irrthume.
Nachdem ich mich für den Ersten und Einzigen gehalten hatte, dem sein eigenes Skelett das Leben verdarb, meinte ich, das dies bei allen der Fall sei. Auch das ist nicht wahr. Die meisten Menschen verbringen ihr Dasein, ohne die schöne Rosalinde je erblickt zu haben, oder sie wenden feige das Auge von ihr weg. Ich verstehe jetzt die sonderbaren Heiligen der alten Zeit, die sich auf Säulen flüchteten, nur um die Lebensfreude und deren knöcherne
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/177&oldid=- (Version vom 1.8.2018)