sich als falsch. Kann man es erbeten? Man kann es, man will es, und dann merkt man, wie der Charakter sich nicht im Strom der Welt bildet, – ich habe je und je gegen dies Wort geeifert – sondern wie der Charakter im Zwiegespräch mit dem Meister, der die Züge eines Menschen wetterhart und fest macht, sich bildet, wie der Charakter in der Selbstschau, in der Schweigsamkeit der Selbstreue, in dem Todesgrauen der Selbstvernichtung die freundlichen Worte hört: „Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben! Gürte das Schwert um, und sei ein Mann!“ Bei einem Charakter, bei einer Persönlichkeit, weiß man in Nebenfragen selten wie sie gelöst werden; aber in Hauptfragen weiß man alles, aber nichts gegen die Wahrheit. Man weiß, daß eine Persönlichkeit alles darangeben kann, nur den nicht, der sie zur Persönlichkeit erhoben und gemacht hat, sei es den unmittelbaren Präger aller Geister, sei es die Mittelperson, durch die Er geprägt hat.
Wie wird eine Diakonisse eine Persönlichkeit? Nur dadurch, daß sie stille wird, daß sie, weit entfernt von der erbärmlichsten Sucht etwas sein zu wollen, was sich nicht mit ihr verträgt, und losgelöst von dem Verlangen, etwas zu bedeuten, ihrem Herrn die Treue und Stille hält. In solcher verzichtenden, selbstverleugnenden, anspruchslosen Zurückgezogenheit hat der Herr Seine Werkstätte: „Ich will den Schwachen zu einem Starken und den, der nicht ist, zu etwas machen und zu denen, die nicht Mein Volk waren, sagen: „Du bist Mein Volk!“ Das ist des Herrn Jesu Wunderkraft, daß Er Menschen, die Ihm sich erschließen voll, ernst, treu, die von Ihm alles und von sich nichts erwarten, mit der rechten Hand segnet: „Fürchte dich nicht, Ich will mit dir sein!“ Und diese Persönlichkeit in Christo, die mit der unpersönlichsten Tätigkeit der Selbstverleugnung anhebt, diese Persönlichkeit in Christo wirkt allein seelsorgerlich.
Unsere Seelsorge, so wiederhole ich noch einmal, sei unsere ganze in Gott gefestigte Persönlichkeit. Solange man jung ist, seelsorgt man peripherisch, wenn man älter wird, seelsorgt man zentral. Solange man jung ist, probiert man mancherlei Schlüssel ans Menschenherz, und einer um den andern versagt oder zerbricht. Wenn man älter wird, bittet man um das Eine: „Laß an mir Deine Gnade erscheinen!“
Es mögen diese 35 sehen, welche ein Leben mit Kraft und Gabe ausstattende Aufgabe der Herr ihnen gestellt hat: Werdet Persönlichkeiten! Ich wills nie hören, daß zu dem Werden von Persönlichkeiten hohe Gaben gehören, und glaube nie, daß zum Werden der Persönlichkeit allerlei an sich schätzenswerte Eigenschaften hinreichen, sondern der Mensch, der Ihn
Hermann von Bezzel: Einsegnungs-Unterricht 1909. , Neuendettelsau 1910, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Einsegnungs-Unterricht_1909.pdf/69&oldid=- (Version vom 1.8.2018)