Es sei einmal ein junger Mann im Aufzug zerquetscht worden. Diese Legende geht von jedem Aufzug.
„Blusen – bitte rechts und dann links,“ wies uns ein Herr in mittleren Jahren, den man Herr Markuse nannte und der scheinbar eine Rolle spielte. Wir waren geschmeichelt und gingen in der bezeichneten Richtung.
„Nein, nein, nein,“ schrie die Tante plötzlich unwillig, als sie an dem gesuchten Stand von Blusen ankam und die Auslagen musterte. „Ich will keine fertige Bluse, ich will Stoff für eine Bluse, im Haus zu nähen. Da steht man sich billiger,“ raunte sie mir erklärend zu.
Ich fand das sehr unangebracht, so eine Bluse erst mal mit großen Umständen zu nähen, wo man sie doch hier fix und fertig zum Anziehen kaufen konnte. Überhaupt bereute ich ein wenig meine Bereitwilligkeit, die Tante zu diesem Blusenkauf zu begleiten.
„Ah, Stoff für eine Bluse für die Dame?“ sagte verstehend Herr Markuse, der uns gefolgt war. „Bitte, bemühen sich die Herrschaften nach der vierten Etage, dort finden Sie, was Sie wünschen.“
Wieder mühselige Treppen, trotz des Asthmas der Tante. Solche Aufzüge bleiben schon mal stecken, dann verhungern die Insassen. Das ist auch so eine Legende, die man sich von jedem Aufzug erzählt.
Natürlich entsprach der Stoff, den man der Tante auf der vierten Etage vorlegte, keineswegs ihren Wünschen und Absichten. Was man ihr da zeigte, war doch Wolle, was für Dienstboten zu Weihnachten, aber nicht für eine Staatsbluse der gnädigen Frau zu gebrauchen war.
„Wolle hält aber doch warm,“ meinte ich schüchtern.
Hermann Harry Schmitz: Buch der Katastrophen. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1916, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz-Buch_der_Katastrophen-1916.djvu/044&oldid=- (Version vom 1.8.2018)