Schätze meines Innern, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. – Aber noch so feine und kluge Sophistik hat mich niemals, auch nur auf Augenblicke, gewinnen können. Sie blieb immer nur Erscheinung, wenn auch glänzende, sie mußte, wenn ich sie betrachtete, in der Vorhalle stehn bleiben, u(nd) durfte nie in mein Wohnzimmer treten.
Herzlichst Sie begrüßend | Ihr | |
B(erlin) den 14. May 1846. | L. Tieck. |
Sie haben mir einigemal, wenn auch nur kurtze, doch sehr liebe Briefchen geschrieben, und hätte ich Ihnen jedesmal antworten können, oder an Sie schreiben, wenn ich an Sie dachte, mit Ihnen in meinem Innern stille Gespräche führte, so hätten Sie unzählige Briefe erhalten. Ich kann nicht ausdrücken, wie oft alle Kräfte meines Wesens und Geistes zu Ihnen hinstreben, welche Lücke in mir gerissen ist, seit ich Sie nicht mehr sehe und spreche, wie viel mir fehlt, wie ich mit keinem meiner Bekannten oder selbst Freunde so sprechen kann, wie mit Ihnen – alles das müssen Sie mir so einfach hin glauben, denn ich kann doch keine Worte finden, Sie davon zu überzeugen. Kurz, es ist ein Schicksal, ein trauriges, ein Unglück, daß wir haben getrennt werden müssen, ein Verlust für mich, den ich niemals verwinden kann, – und mehr als Verlust, denn das Wort klingt so eigennützig, oder gewinnsüchtig.
Ich glaube Ihnen, ich habe mir es gedacht, daß Sie in diesen Zeiten viel Schmerzliches erlitten habe(n), denn ich glaube ja, Sie zu kennen. Aber was unvermeidlich ist, ist eben unabänderlich. Wären Sie anders, hätten Sie etwas von einer Amazone, oder nur ein wenig Männlichkeit, so wären Sie eben nicht das, was Sie sind. Auch das ist Schicksal, Nothwendigkeit, und ich kann mit Ihnen klagen, hätte Sie aber nicht bestimmen können, fester und herber zu sein, nicht so duldend, göttlich leidend, – warum sind wir Menschen, wie wir einmal sind. Ich habe in meinem Leben mehr wie einmal die Liebsten und Nächsten schmerzlich verwunden müssen[1], weil ich mir nicht gefallen lassen konnte und durfte, was höchst unbillig, ja grausam war: ich mußte mit allen Kräfften kämpfen, bis zur Grausamkeit und Roheit (wie jene es nannten) um nicht ein gefesselter Sklave zu werden.
- ↑ Mit seinen Geschwistern muß Tieck bisweilen heftige Auftritte gehabt haben. Nach seinem Briefe vom 3. Februar 1853 (S. 39) bestand zwischen ihnen und ihm kein freundschaftliches Einvernehmen.
Herausgeber: Otto Fiebiger (1869–1946): Ludwig Tieck und Ida von Lüttichau in ihren Briefen. i. A. des Dresdner Geschichtsvereins, Dresden 1937, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Heft32VereinGeschichteDresden1937.pdf/30&oldid=- (Version vom 23.11.2023)