Nach Tisch waren wir bei Frau Longard, wo wir den Sohn Dr. Longard antrafen. Frau L. fanden wir in ihrem Wohnzimmer im Liegestuhl. Sie sah sehr viel besser aus als das letzte Mal, wo ich sie sah, die Augen waren klarer u. die Sprache auch besser, nur daß mir eine gelbliche Färbung im Gesicht auffiel, doch nicht im ganzen Gesicht, sondern nur stellenweise. Auch war die linke Seite beweglicher, doch fiel mir auf, daß die linke Hand etwas geschwollen zu sein schien. Ich hatte den Eindruck einer Besserung, aber es ist nicht ausgeschlossen, daß es eine Täuschung war. Dr. Meyer hat sich zu Frau Triebsch geäußert, daß der neunte Tag nach einem Schlaganfall in der Regel eine Krisis bedeute. Da der Schlaganfall genau vor einer Woche eintrat, würde morgen dieser neunte Tag sein. – Wir waren etwa eine Stunde dort, als Herr u. Frau Triebsch kamen, was wir zum Anlaß nahmen, zu gehen. Frau L. war zum Schluß eingeschlafen. – Herr Dr. L. erzählte von seiner Reise hierher, die überaus beschwerlich gewesen ist, der Zug war so voll, daß man ihn nur durch die Fenster besteigen u. verlassen konnte. Es ist einfach furchtbar, wie noch immer, zwei volle Jahre nach Einstellung der Kampfhandlungen, diese Verkehrsverhältnisse hier in der russischen Zone beschaffen sind. –
Heute früh bereits um 6 Uhr öffneten Fritz, Martha, Frl v. Tigerström u. Trude, die hierzu extra so früh gekommen war, unsere Kartoffelmiete. Sie taten das so früh, um möglichst zu vermeiden, daß andere Leute etwas davon gewahr wurden, denn so ist es nun schon, daß man sich ängstlich hüten muß, daß andere Leute sehen, wenn man noch Nahrungsmittel besitzt. Trotzdem ließ sich nicht vermeiden, daß die Nachbarn Papenhagen es bemerkten. Sie erwarten nun selbstverständlich, daß man ihnen etwas abgibt, obschon sie selbst besser die Möglichkeit haben, sich Lebensmittel zu beschaffen, als wir, u. auch tatsächlich mehr haben als wir. Papenhagen hat sehr viel Holz verfeuert in diesem Winter als andere Leute u. hat jetzt wieder neues Brennholz bekommen, aber es wird ihm nie einfallen, uns Holz abzugeben, obgleich unser Holz jetzt zuende ist u. wir nicht mehr heizen können. Das sind höchst häßliche Begleiterscheinungen der allgemeinen Not. Gerade in Bezug auf Holz ist es besonders schlimm. In der Dorfstraße sind viele Pappeln dem Winter zum Opfer gefallen u. in die Oefen gewandert, sodaß die Dorfstraße bereits böse aussieht. In der neuen Kolonie draußen sind ganze Reihen von Bäumen in die Oefen der Leute gewandert. – Von den Kartoffeln unserer Miete ist ein nicht unerheblicher Teil erfroren. Gegen Abend erschien natürlich auch Grete u. bettelte um Kartoffeln. –
Von Frau Triebsch hörten wir, daß es Frau Longard auch heute weiterhin besser geht. Damit wäre denn der Tag, der nach Ansicht von Dr. Meyer ein Krisentag war, gut verlaufen. – Nachmittags war Carmen Grantz da, mit der ich das Singen am Ostersonntag besprach, sie will während des Gottesdienstes singen, aber nur ganz einfach u. schlicht, ohne großen künstlerischen Anspruch.
Hans Brass: TBHB 1947-03-30. , 1947, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1947-03-30_001.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2025)