auf diesem Wege in die Verwaltung etwas mehr Schwung zu bringen, denn mein Nachfolger, Herr Schöter, schläft allmählich auf seinem Bürgermeisterstuhl ein. Er ist sonst durchaus einwandfrei, aber leider ohne jede Initiative. Infolge dessen herrscht im Ort eine Kartoffelnot, die fast zur Katastrophe wird. Jeder versucht, auf eigene Faust zu Kartoffeln zu kommen, wodurch die Schiebergeschäfte einen fabelhaften Auftrieb bekommen. Man hat Glück, wenn man alte, vorjährige Kartoffeln für 50,– Rm. pro Centner bekommen kann. Auch wir sind am Ende damit. Es wäre Pflicht des Bürgermeisters, die Sache in die Hand zu nehmen, wie ich es vor einem Jahr ja auch getan habe. Wie stolz war ich damals wenn es mir gelungen war, mit dem Lastwagen 60 Centner heranzuschleppen, – u. damals war es schon ein Kunststück, den Lastwagen überhaupt zu bekommen, weil der widerliche Kosaken-Hauptmann in Wustrow den Wagen dauernd für sich beanspruchte. – Wenn man daran zurückdenkt, dann sieht man doch, daß heute alles schon viel besser u. leichter ist.
Infolge meiner besseren Gesundheit habe ich heute auch mein Bild sehr fördern können. Ich habe den ganzen Hintergrund durchgearbeitet u. die im Sofa sitzende Figur ebenfalls. Ich glaube, daß ich morgen die linke Seite mit dem zweiten Fenster fertig malen werde.
Es geht mir auch heute gesundheitlich gut, wenn ich von einem leichten Durchfall absehe, der die unerfreuliche Nebenwirkung des neuen Medikamentes zu sein scheint.
Habe wieder gut gemalt heute, hauptsächlich habe ich die weibliche Figur im Sofa sitzend fertig gemalt. Diese hat mich sehr aufgehalten, sodaß ich sonst nicht viel weiter gekommen bin. Das Bild wird aber sehr gut. Es ist erregend zu malen.
Abends mit Fritz, der sein neues Steckenpferd „Ahnenforschung“ mit Leidenschaft reitet. Er hat große Rollen gefunden mit akademischen Urkunden des Urgroßvaters, Großvaters u. Vaters u. hat sie sortiert. Dabei befanden sich auch riesengroße Speisekarten von Stiftungsfesten ärztlicher Vereine, die künstlerisch von L. Pietsch in Lithographie gezeichnet sind u. Pornographien übelster Art darstellen. Die Urkunden des Urgroßvaters sind noch recht anständig, aber schon die des Großvaters nehmen bedenklich an künstlerischem Wert ab, während die unter Wilhelm II gegebenen Urkunden des Vaters von einer bodenlosen Geschmacklosigkeit sind. Der rapide Verfall unserer Kultur geht deutlich daraus hervor, allerdings würde man heute dergleichen nicht mehr machen. Man ist wieder geschmackvoller geworden, aber ich weiß nicht, ob man das als Kultur=Zunahme verbuchen kann. Es ist einfach eine rationale Angelegenheit einer fortgeschritteneren Zivilisation.
Andacht heute morgen sehr schwach besucht, warum, weiß ich nicht vielleicht Zufall.
Nach Tisch mit Martha Spaziergang zum Hohen Ufer, – seit sehr langer Zeit das erste Mal. Wir besichtigten das ehemals Kröner'sche Haus. Es befindet sich dort keine Spur einer ehemaligen Einrichtung mehr, nur ein weißer
Hans Brass: TBHB 1946-06-21. , 1946, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1946-06-22_001.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2024)