Diverse: Handbuch der Politik – Band 2 | |
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Hier findet man neben niedrigen Gehältern übermässig lange Arbeitszeiten, Überstunden, ausgedehnte Sonntagsarbeit, schlechte Beschaffenheit der Geschäftsräume, rigorose Konkurrenzklauseln, kurze Kündigungsfristen und andere zu Ungunsten der Angestellten lautenden Bedingungen des Anstellungsvertrages. Diese Gestaltung der Verhältnisse hat trotz des mangelnden politischen und Klassengegensatzes zwischen Angestellten und Arbeitgebern, trotz der vielen sonstigen sozialen Berührungspunkte beider Parteien das Entstehen einer sozialen Frage für diese Berufskreise verursacht.
6. Die Träger dieser Bewegung sind die in kurzer Zeit zu einflussreichen und grossen Organisationen angewachsenen Berufsvereine geworden, deren bedeutungsvollste Aufgabe heute die Hebung der wirtschaftlichen Lage und der rechtlichen und sozialen Stellung ihrer Mitglieder ist. Die Zahl dieser Berufsvereine ist sehr gross. Die meisten haben sich zu machtvollen interlokalen Zentralverbänden zusammengeschlossen. So zählt Kulemann (Die „Berufsvereine“ Abt. I) für die technischen Berufe 17 Zentralverbände, von denen beispielsweise der „Bund deutscher Architekten“ 21 Ortsgruppen, der „Deutsche Werkmeisterverband“ 826 Bezirksvereine besitzt. Für die chemischen Berufe werden 4 grosse Zentralorganisationen angegeben, von denen z. B. der „Verein deutscher Chemiker“ allein 19 Bezirksvereine aufweist. Die kaufmännischen Angestellten verfügen über einige 20 das ganze Deutsche Reich umfassende Berufs- und Fachorganisationen mit zahllosen Gau-, Bezirks- und Ortsvereinen. Endlich besitzen auch die Bürobeamten und landwirtschaftlichen Privatangestellten mehr als 10 interlokal organisierte Interessenvertretungen mit vielen Untervereinen.
Obgleich bis vor kurzem ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Berufsarten und ihren Organisationen fehlte, obgleich die Verbände der Handlungsgehilfen auf Vorschriften im Handelsgesetzbuche, die Verbände der Werkmeister und Techniker auf Verbesserungen der Gewerbeordnung, die Güterbeamten, Bergbeamten etc. auf Reform der Landesgesetzgebung hinarbeiten, bewegen sich doch die Bestrebungen aller dieser Kreise in der gleichen Richtung. In der Regel hat das Vorgehen einer Gruppe die anderen zur Nachfolge auf dem gleichen Wege angespornt, sodass bei den meisten Forderungen ein gemeinsamer Zug unverkennbar ist. Die wichtige Frage der staatlichen Pensions- und Hinterbliebenenversicherung endlich hat es sogar vermocht, den Kreis der Hunderttausende von Gehilfen und Privatangestellten aller Gruppen zu einer einheitlichen tatkräftigen Aktion zusammenzuschliessen und ein gemeinsames offizielles Organ in dem „Hauptausschusse“ zu schaffen. Damit ist aber der erste Schritt zu einer Standesbewegung der Privatbeamtenschaft und vielleicht auch zu einer Privatbeamtenpolitik des Reiches getan. –
Ausser der Pensions- und Hinterbliebenenversicherung betreffen die gemeinsamen Ziele der Privatbeamtenbewegung eine einheitliche Reform des Rechts über den Dienstvertrag, der sozialpolitischen Schutzgesetze und einiger öffentlichrechtlicher Bestimmungen. –
7. Als Mindestbedingungen des Dienstvertrages werden gefordert: 1. Barzahlung des Gehalts und Verbot des Truck-Systems in jeglicher Form. Erhöhte Verzinsung von Lohnrückständen. 2. Verbot der Zurückbehaltung des Gehalts oder der Aufrechnung mit Darlehen, Schadensersatzansprüchen und ähnlichen Forderungen; 3. Beschränkung der Einbehaltung des Arbeitsverdienstes zu Kautionszwecken. Sicherstellung der Dienstkautionen im Konkurse des Arbeitgebers. 4. Erhöhte Sicherung des Arbeitseinkommens gegen Pfändung. 5. Fortzahlung des Gehalts bei unverschuldeter Verhinderung an der Dienstleistung während nicht erheblich langer Zeit. Fortzahlung des Gehalts in Krankheitsfällen auf die Dauer von 6 Wochen ohne Anrechnung von Kassenbezügen. Fortzahlung des Gehalts bei militärischen Übungen. 6. Gleichheit der Kündigungsbedingungen für beide Parteien. 7. Festsetzung einer Mindestkündigungsfrist von einem Monat zum Monatsschluss, wie sie im H.G.B. oder in der R.G.O. besteht, oder von 6 Wochen zum Vierteljahresschluss, wie sie vielfach von Verbänden angestrebt wird. 8. Beschränkung der Kündigungsbefugnis während einer Krankheit oder militärischen Dienstleistung. 9. Festsetzung der wichtigsten Gründe, die zur Auflösung des Dienstverhältnisses ohne Einhaltung der vereinbarten oder gesetzlichen Kündigungsfrist berechtigen. 10. Verbot oder erheblich verschärfte Bestimmungen gegen die Aufnahme von Konkurrenzklauseln in den Dienstvertrag. 11. Recht des Angestellten
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/339&oldid=- (Version vom 9.10.2021)